Kultur Die Sprache der Apokalypse

Ein Denkmal für Michail Bulgakow auf dem Andreassteig in Kiew. Der Roman spielt in der ukrainischen Hauptstadt.
Ein Denkmal für Michail Bulgakow auf dem Andreassteig in Kiew. Der Roman spielt in der ukrainischen Hauptstadt.

Eine echte Wiederentdeckung: Der Romanerstling „Die weiße Garde“ des russischen Autors Michail Bulgakow (1891-1940) liest sich wie ein Kursbuch der Moderne. Entstanden in den 1920er Jahren und im von Revolutionsunruhen umtosten Kiew spielend, ist das Buch ein seltenes Beispiel für expressionistische Prosa auf Weltniveau.

Sein berühmtestes Buch „Der Meister und Margarita“ erschien erst fast 30 Jahre nach Michail Bulgakows Tod. Aber es wurde aufgenommen wie eine literarische Sensation, weil es eine ganz unbekannte Facette der russischen Literatur im frühen 20. Jahrhundert aufzeigte. Das war eben keine linientreue Propaganda-Poesie, sondern ein Beispiel für die russische Avantgarde, vom Surrealismus ebenso beeinflusst wie vom Expressionismus. Schnell wurde aus „Der Meister und Margarita“ ein Klassiker, der auch als Theaterstück Erfolge feierte. Zwölf Jahre hat Bulgakow an „Der Meister und Margarita“ gearbeitet, immerhin aber gibt es eine Endfassung des Romans. Das ist bei „Die weiße Garde“ anders. Umso erfreulicher, dass jetzt im Galiani-Verlag nicht nur eine fulminante Neuübersetzung durch Alexander Nitzberg erschienen ist, sondern zugleich auch eine textkritische Edition, mit deren Hilfe man die unterschiedlichen Fassungen vergleichen kann. Das Buch ist auch eine Familiengeschichte, fast ein wenig wie Thomas Manns „Buddenbrooks“. Nur eben ganz anders. Im Mittelpunkt stehen die Geschwister Turbin, die gerade ihre Eltern verloren haben. Es ist die eigene Familie, die Bulgakow porträtiert, genau so wie Freunde und Verwandte der Bulgakows. Der Autor selbst ist Alexej Turbin, seine jüngeren Geschwister Warwara und Nikolaj heißen im Roman Jelena und Nikolka. Die Handlung beginnt in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, die im Roman nur die „Große Stadt“ genannt wird. Während im restlichen Russland die Rote Armee siegt, bereitet man sich in Kiew zusammen mit den verbündeten Deutschen auf die Verteidigung der Stadt gegen die Truppen des Revolutionärs Symon Petljura vor, der von 1919 bis 1920 Präsident der Ukraine war, ehe auch er von der Roten Armee gestürzt wurde. Zarentreue Offiziere versammeln sich in der Wohnung der Turbins, Studenten werden als Freiwillige angeworben und auf einem Schulgelände ausgebildet. Doch in einer Nacht- und Nebenaktion flieht der gesamte Stab mitsamt der Regierung, auch die deutschen Truppen ziehen aus Kiew ab und überlassen die Stadt ihrem Schicksal. Auch die Turbin-Brüder wollen in die Schlacht, die dann aber eigentlich gar nicht mehr stattfindet. Dennoch wird Alexej schwer verwundet, erkrankt an Typhus und entgeht dem Tod nur knapp. Der Ehemann Jelenas wusste von den politischen Hintergründen und hatte sich schon vor dem Fall der Stadt in den Westen abgesetzt. So weit die äußere Handlung und der historische Hintergrund. Doch dies ist eigentlich nur eine Folie, auf der Bulgakow das Seelenleben seiner Protagonisten ausbreitet. Und das in einer Sprache, die der Übersetzer im Nachwort völlig zu Recht als „radikalen Modernismus“ beschreibt. Im Grunde gelingt Bulgakow das seltene Kunststück einer expressionistischen Prosa. Schließlich hatte der Expressionismus seine eigentlich sprachliche Wucht vor allem in der Lyrik und vor allem auf der Theaterbühne entfaltet. Expressionistische Prosa findet sich dagegen eher seltener, vielleicht bei Alfred Döblin („Berlin Alexanderplatz“ und „Berge, Meere und Giganten“) oder Gottfried Benn („Die Ermordung einer Butterblume“). „Als die Truppen Petljuras sich der Innenstadt nähern bricht unter den Menschen Panik aus: Wie ein Wirbelwind schwirrte ein Bürgersmann vorbei, der schlug ein Kreuz nach allen Seiten und schrie: ,Jesus und Maria! Wolodja! Wolodja! Der Petljura kommt!’ Am Ende der Lubotschitzkaja waren es schon viele, die sich tummelten, wimmelten und durch die Tore flüchteten. Irgendein Mann im schwarzen Mantel war vor Angst übergeschnappt, warf sich aufs Tor, schob durchs Gitter seinen Spazierstock und zerbrach ihn knackend.“ Das wirkt wie die Prosafassung des Gedichts „Weltende“ von Jakob van Hoddis, mit dem die berühmte expressionistische Anthologie „Menschheitsdämmerung“ eröffnet wurde: „Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,/In allen Lüften hallt es wie Geschrei,/Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei/Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut./Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen/An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken./Die meisten Menschen haben einen Schnupfen./Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.“ Kaum vorstellbar, dass Bulgakow das Gedicht nicht gekannt haben sollte. Auch er beschreibt eine Weltende, eine Art Apokalypse, in der die Ukraine, das bürgerliche Kiew, untergehen werden. Seine Sprache dazu ist zum Teil voller kryptische Bilder und gewagter Metaphern, sie wirkt mitunter gehetzt, getrieben, auch dort, wo sie sich eigentlich Zeit nimmt, um zu beschreiben. Ein avantgardistisches Buch, das auf seine Wiederentdeckung durch den Leser wartet. Nils’ Kinderlexikon Lesezeichen Michail Bulgakow: „Die weiße Garde“, Roman, neu übersetzt von Alexander Nitzberg. 544 Seiten, 30 Euro. Galiani, Berlin.

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