Kultur Der Multikulti-Mikrokosmos

Auch heute noch gleicht die Straße fast jenem längst vergangenen Kosmos der Frankenthaler Kindheit. Nur: Auf der Straße spielt h
Auch heute noch gleicht die Straße fast jenem längst vergangenen Kosmos der Frankenthaler Kindheit. Nur: Auf der Straße spielt hier keiner mehr.

Kinder erschließen sich das Leben und die Zusammenhänge wie eine Landkarte, die immer weiter wächst, hat ein Pädagoge bei einer Tagung einmal sehr bildlich erklärt. Und so ist es auch mit meinem Europa, dessen Keim für mich mitten in der Pfalz liegt. Denn noch lange bevor ich wusste, was Europa geografisch, geschweige denn politisch bedeutet, lebte ich mittendrin. Ganz selbstverständlich. Mein Europa war der Mikrokosmos einer Frankenthaler Mietshaussiedlung mit Firmen-, Gastarbeiter-, Beamten- und Sozialwohnungen. Auf der Straße, die zwar mitten in der Stadt, aber nahezu unbefahren war, spielten wir Kinder zusammen, auch wenn wir uns nicht alle verstanden: Zahira und Latifa waren gerade aus Marokko nach Deutschland gekommen. Dass das Land in Afrika liegt, hat mir meine Mutter damals zwar erklärt, war aber für mein kleines Kinderhirn einfach nicht greifbar, genauso hätte sie mir erklären können, es läge auf einem weit entfernten Planeten. Egal, die beiden Schwestern sprachen auf jeden Fall kaum ein Wort Deutsch, lächelten aber so freundlich, dass alles gleich klar war zwischen uns und all den anderen Kindern, die sich immer „uff de Gass“ zum Spielen trafen: Maria aus Spanien, ihr Bruder Toni, Antonietta aus Italien, Ali, Ramazan und Mehmet aus der Türkei, Stefanie aus dem Saarland, Luise aus dem Erdgeschoss, ich aus dem Dachgeschoss, Erik aus dem Nachbarhaus – wir alle hatten unseren Platz in dieser kleinen Multikulti-Spielgemeinschaft mit wechselnden Allianzen und jeder Menge Abenteuer in unserer Welt der Kleingärten hinter den Häuserzeilen. Und welch ein Glück: Assimiliert war damals noch kaum jemand! Wir unterschieden uns deutlich im Kleidungs- und Essensstil, und ich liebte und bestaunte fremder Küchen Gerüche und Geschmäcker. Das Fremde hat mich früh neugierig gemacht. Ganz selbstverständlich hörte ich von klein auf zu, wenn mein Onkel und mein Vater bei Familienfeiern von „de Franzose“ und von „de Amis“ – den Soldaten, die ihre Kindheits-Kriegs- und Nachkriegsjahre prägten – erzählten. Und wie war ich gespannt, als ich das erste Mal ins Ausland reisen durfte! Noch war ich kein Schulkind, als meine Eltern mit mir einen Urlaub in Schönau bei Fischbach verbrachten. Wir bekamen den Tipp, dass es „driwwe“ in Wengelsbach ein gemütliches kleines Wirtshaus mit Gartenlokal geben soll, wo man „richtig gut französisch“ essen könne. Also spazierten wir los, vorbei an Teichen mit fröhlichem Froschgequake und zu einem Schlagbaum: Die Zöllner in ihren strengen Uniformen flößten mir schon etwas Ehrfurcht ein, doch sie waren bei aller Sachlichkeit sehr freundlich und nickten uns nach einem kurzen Blick auf unsere Reisepässe durch. Jetzt also sind wir nicht mehr in Deutschland, fühlte ich in mir ein merkwürdig aufgeregtes Kribbeln im Bauch. Noch eine Weile mussten wir wandern, und ich suchte herauszufinden, was denn nun an Frankreich anders sein sollte, als an der Pfalz: Der Wald und die Wiesen sahen gleich aus. Die Frösche quakten in der gleichen Sprache, und auch die Vögel klangen genau gleich. Nur die Menschen, so stellte ich dann später fest, sprechen irgendwie anders. Aber auch nicht so, dass man sie nicht verstehen konnte: Es war ein bisschen wie Pfälzisch, dennoch ein bisschen anders. Es klang schön und lustig. Und bei Worten, die mal meine Eltern, mal die Kellnerin nicht verstanden, machten es die Großen, wie wir Kinder auf der Straße: lächeln und gestikulieren. An diesem Tag ist mein Europa ein kleines Stück gewachsen. Und in etlichen anderen Urlauben und Besuchen – in Österreich, in Italien, in den Niederlanden, in Ungarn, in Kroatien, in der Schweiz – wuchs mein Mikrokosmos langsam heran zu einem Gesamtbild, zu einem Europa, das nicht durch seine Sprachen oder Grenzen zu definieren war, sondern durch seine Menschen mit all ihren Besonderheiten und Eigenarten, durch seine Landschaften und klimatischen Unterschiede, und das geprägt ist von gegenseitigem Austausch und Verständnis – zumindest in der direkten Begegnung. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien machte mir als Jugendliche das erste Mal bewusst, wie fragil der Frieden auch auf unserem Kontinent ist. Und als eines Tages dann unser ehemaliger kroatischer Gastgeber, der uns mehrfach ganz engagiert seine Heimat gezeigt hatte, an unserer Tür klingelte und um Unterschlupf bat, weil er in seiner Heimat um sein Leben bangte, war für uns klar, dass er selbstverständlich so lange bei uns in unserer kleinen Mietwohnung „Urlaub“ machen durfte, wie er mochte. Dass Europäer, nein, dass Menschen füreinander einstehen, das ist heute meine Hoffnung für ein zukunftsfähiges Europa.

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