Kultur Das Barcamp-Logbuch

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Victor Riley, Praktikant in der Onlineredaktion der RHEINPFALZ war zum ersten Mal auf dem Barcamp Rhein-Neckar. In seinem Logbuch hat er Interessantes und Überraschendes festgehalten. Während des Barcamps hat er live für die RHEINPFALZ getwittert.

# BarCamp Tag 1

Es ist 6.54 Uhr. Ich stehe unter der Dusche und frage mich, "was wird da auf mich zukommen?" Ehrlich gesagt: keine Ahnung. Normalerweise habe ich immer so eine Ahnung. Praktikum in der RHEINPFALZ? Klar, Kaffeekochen, Kopieren, Fleißarbeit. Dass ich zu einer solchen Veranstaltung geschickt werde, habe ich wohl nicht geahnt, aber wurscht. Hatte wenigstens eine falsche Ahnung. Irgendwie liegt diese Ahnungslosigkeit aber auch im Konzept eines Barcamps. Niemand weiß so genau, was da eigentlich passiert. 8:34 Uhr. Habe einen Parkplatz gefunden. Direkt vor der Tür. Der Tag kann nur gut werden. Anmelden, Namensschild ausfüllen. Ich bekomme ein "MöglichMacher" Armbändchen, die RHEINPFALZ ist nämlich Sponsor. Hinten im großen Raum liegen Brezeln aus. Gibt noch keinen Kaffee, also wird Wassereis verteilt. Ich lehne dankend ab. Kein Eis vor drei – oder so. Setze mich hinten auf eine Bank, packe mein Tablet aus. Schnell noch ein Bild von der leeren Bühne machen und für die RHEINPFALZ twittern. Es ist 9.12 Uhr, ich unterhalte mich mit ein paar Leuten über Computer, Smartphones, Elektronikmärkte und Onlinehändler. Läuft. 9.59 Uhr. Die Einführung ist in vollem Gange. Das Organisationsteam quatscht über den Ablauf, die Sessions und die Räumlichkeiten. "Eine Session muss kein Vortrag sein, es kann auch eine Frage sein, die diskutiert wird. Vorhin haben mich ein paar angesprochen, dass sie gar kein Twitter haben. Also wäre eine mögliche Frage 'was ist denn dieses Twitter?' ", sagt Nathan Mattes, einer der Organisatoren. Die Runde lacht. Die einzige Regel einer Session ist: Sie dauert 45 Minuten. 10.35 Uhr. Die Sessions werden vorgestellt, das Interesse abgefragt. Der Vortrag "Beleidigen – Aber richtig!" hat erstaunlich viele Interessenten. Ich wundere mich kein bisschen. Es geht aber auch ernst. Sehr ernst. Eine andere Session thematisiert Suizid, eine weitere dreht sich um Depressionen und eine dritte behandelt Möglichkeiten, Depressionen zu erkennen und Suizid zu verhindern. Yoga auf der Neckarwiese, Minecraft und die Auswirkungen von Computerspielen, Social-Media in Deutschland und Kaffeebechermüll sind ebenfalls Sessions. Ich habe keine Ahnung, welche Sessions ich besuchen soll. Hier nennt man das die "Barcamp-Krankheit". Toll. Keine Zwei Stunden bin ich hier, schon habe ich mich infiziert. Inkubationszeit? So lange, wie der Laden hier läuft. Jetzt wird eine Session vorgestellt, die mich tatsächlich so sehr interessiert, dass ich einfach nicht anders kann, als sie zu besuchen. Jannis Kuhlencord spricht über TEDx Heidelberg. TED-Talks, das sind von TED organisierte Reden von – oft berühmten – Persönlichkeiten über allerlei Themen. TEDx sind unabhängig organisierte Redeverenstaltungen mit dem gleichen Leitmotiv, die in aller Welt sehr diverse Themen behandeln. 11.28 Uhr. Definitiv eine sehr gute Entscheidung. Wir sitzen in einer Runde, stellen Fragen an Jannis Kuhlencord, der TEDx-Heidelberg 2016 initiiert hat und mit organisiert. "Was bedeutet 'von der Community getragen'?". "Kann man sich dann auch mit den Rednern verknüpfen?" "Müssen das ganz eigene Ideen sein, oder kann man auch etwas vorstellen, von dem man denkt, dass es etwas bewirken kann?" "Müssen die Reden auf Englisch oder Deutsch sein?" Jannis holt für seine Antworten weit aus. Die Zeit rinnt davon. Zehn Minuten noch. Fünf Minuten. Eine Minute. Die Zeit ist der größte Gegenspieler, merke ich. Ein Interview mit ihm habe ich mir für morgen gesichert. Jetzt ist es 12.03 Uhr. Ich sitze in der Session "Beleidigen – Aber richtig!". Ich entschuldige mich bei den Lesern auf Twitter. Und grinse hämisch in mich hinein. Die Alternative wäre "Digital Office" gewesen. Ich lerne etwas über Beleidigungen in der Steinzeit, höre von Verbrennungen wegen Papstkarrikaturen und werde über gute Franzosenwitze aufgeklärt. In diesem Sinne: Je suis Froschschenkelfresser. Oder so. Wer hätte es geahnt, Erdogan ist auch Thema. Wie reagiert man auf Beleidigungen? "Mein Tipp: Wiederholen. 'du bist ein Arschloch!' – Ich bin ein Arschloch? Ok", sagt Andreas Türkon. Er nennt sich auf Twitter "drLandarzt", seine Lieblingsbeleidigung ist „Pavianpimmel“. Regionale Beleidigungen werden Thema. Das könnte für die Pfalz doch recht interessant sein. „Hannebambel“, „Labbeduddel“. „Du Metze“ bedeutet übrigens „Du *zensiert*“. Eingefleischte Pfälzer sollten es aber kennen. Wichtig anzumerken: "Eine Beleidigung bleibt eine Beleidigung, auch wenn das Gegenüber sie nicht versteht", sagt Andreas. "Aber dann erzeugt das ja keine negativen Gefühle?", wirft ein Sessionteilnehmer in den Raum. "Man kann aber mit dem Tonfall arbeiten", kommt als Antwort. Eine weitere Lektion: Beleidigungen reflektieren oft den Beleidigenden. Wer im Netz heftig beleidigt, auf den fällt ein gewisser Fokus. Wer beleidigt wird und sich im Übermaß wehrt, ebenfalls. Das nennt man den Streisand-Effekt, bekannt nach Barbara Streisand. Sie verklagte einen Fotografen, weil ihr Haus in einer seiner Luftaufnahmen zu sehen war. Dadurch wurde der Standort des Hauses aber erst der Öffentlichkeit bekannt. Das Foto, das sie eigentlich verbieten lassen wollte, verbreitete sich umso mehr. Manchmal ist die Devise "einfach drüber stehen" tatsächlich die beste Variante. Die Session endet mit einem Seneca-Zitat: "Ein großer Geist, der sich selbst richtig schätzt, rächt Beleidigungen nicht, weil er für sie keinen Sinn hat." Ich fühle mich in meinen Latein-Leistungskurs zurückversetzt. Zum Schluss dürfen alle ihre Lieblingsbeleidigungen zusammentragen. Ich fotografiere das Ergebnis auf der Flipchart und twittere das Bild über RHEINPFALZlive. Im Nachhinein vielleicht nicht die beste Entscheidung. Einige Beleidigungen sind ganz nett, irgendwie zum Schmunzeln. Andere hingegen schon etwas heftiger. Spaß an ihnen hat trotzdem jeder. 13.24 Uhr. Ich stehe in der Schlange zum Mittagessen. Irgendetwas tex-mex in vegan. Klingt...passend. Mein Tablet hängt an der Steckdose, mein Zusatzakku auch. Twittern ist anstrengend. Also für meine technischen Gerätschaften. 13.31 Uhr. Die "Burritos Tex-Mex an Guacamole" lassen auf sich warten. Habe irgendwie Hunger. 13:42 Uhr. Mampf. Wusste nicht, dass Vegan schmecken kann. Scherz beiseite, das Catering ist gut. Richtig gut. Mache ein Bild und twittere es. Soll die Redaktion ruhig neidisch werden. 14:06 Uhr. Sitze im Seminarraum, in der Session "Was tun gegen Plastik- und Pappbecher". Valentin Bachem will mit unserer "Runde der Pappbecher-Ritter" Konzepte erarbeiten, wie man die Unmengen an Müll verringern kann, die täglich alleine durch Einmal-Kaffeebecher anfallen. Man hat nämlich gehört, dass da in Heidelberg was passieren soll. Also fliegen Vorschläge durch die Luft, von Pfandbecher über Rabatte bei mitgebrachten Tassen bis hin zu "Becherautomaten" der Stadt, an denen man sich das Behältnis der Wahl im schicken Stadtdesign "ziehen" kann. Am Ende kommen zwei Seiten auf der Flipchart zusammen. Ich twittere natürlich nebenher. 15:03 Uhr. "Warum tut sich Deutschland so schwer mit Sozialen Medien" artet nach wenigen Minuten irgendwie ein bisschen aus. Printmedien und Firmen werden von der einen Seite kritisiert. Datenschutz von der anderen als höchstes Gut gesichert. Misstrauen gegenüber Überwachung im Internet wird genauso geäußert wie der Wunsch nach einer Öffnung der Großkonzerne in sozialen Medien. Wir kommen zu dem Schluss: Deutsche Firmen und Medien müssen aktiver und dynamischer auf Social Medias werden". Das twittere ich gleich mal. 15:47 Uhr, Kaffepause. Ich studiere den Session-Plan sehr intensiv. Es gibt zu viele gute Sessions auf einmal. Die Entscheidung fällt schließlich auf "Live Usability Review – Tipps zu Websites". Hört sich interessant an. Es ist 16:57 Uhr, wir schauen uns ein paar schöne Websites an. Und ein paar nicht-so-schöne. Und die Seite der Rheinpfalz. Gutes Webdesign ist eigentlich ganz einfach, aber verdammt schwierig. Wo platziere ich welche Elemente auf meiner Internetseite, damit Nutzer X am einfachsten zu Dienstleistung Y kommt? Wie gestalte ich die Seite, damit sie sowohl mobil als auch auf dem großen PC-Bildschirm funktioniert? 17:29 Uhr. Ich stehe vor veganen Cupcakes in zig Varianten. Wie habe ich es geschafft, die kleinen Leckerbissen in der Kaffeepause erfolgreich zu übersehen? Twittere ein Foto. 17:33 Uhr. Die Abschluss-Session für den ersten Tag beginnt. Alle Teilnehmer sitzen zusammen und können Kritik, Lob und Vorschläge für den nächsten Tag und das nächste Mal äußern. 17:42 Uhr, der erste Tag ist offiziell beendet. Ich verwickle mich in Gespräche. Ich habe das Talent, mich ordentlich zu verwickeln. Bin um kurz nach zehn Zuhause. # Barcamp Tag 2 09:12 Uhr, der Zweite Tag beginnt. Esse erstmal ein Laugenbrötchen. Nach und nach trudeln die Teilnehmer ein. Die Meisten waren gestern schon da, einige wenige sind neu. 10:11 Uhr. Die Planung ist in vollem Gange. Ein paar Sessions werden wiederholt, es gibt aber auch viele neue. Hier nennt man das den "Qualitätssonntag": Ideen, die gestern während der Sessions aufgekommen sind, können sich heute zu eigenständigen Sessions entwickeln. Ich entscheide mich für eine Session über Autismus aus der Sicht eines Betroffenen. Die hatte ich gestern verpasst. Wie gesagt, die Barcamp-Krankheit. 10:35 Uhr. Aleksander Knauerhase ist Autist. Er spricht darüber, wie es sich anfühlt, sich anders zu fühlen. Was es bedeutet, gesagt zu bekommen "stell dich nicht so an". Ich lerne viel, mehr, als ich bisher über Autisten zu wissen glaubte. Und Aleksander alias @Querdenkender liefert gute Zitate. Zu viele gute Zitate. Ich komme mit dem twittern, zuhören, Fragen stellen kaum hinterher. Autismus ist eine Behinderung, aber eine, die man nicht sieht. Es ist unsichtbar. Einfacher macht es das nicht, im Gegenteil. Seine Diagnose hat er erst vor sieben Jahren bekommen. Sich in der Gesellschaft fremd gefühlt schon von Klein auf. Aber Aleksander erklärt auch, wie man sich als Autist auf diese Gesellschaft einstellt. Nicht, weil man es einfach kann, sondern weil man muss. 11:33 Uhr, "Live Usability Review“ die Zweite. Dieses Mal im charaktervollen Atelier. Hier herrscht ein besonderes "Flair". Und ein starker Textil- und Ledergeruch. Kleider hängen an Bügeln, Schneiderutensilien liegen auf Tischen herum. Sogar ein Tischgrill steht im Raum. Wir besprechen die Bedienbarkeit verschiedenster Websites. Nach zehn Minuten wechsle ich zu "Verschlüsselung mobil". Auch das ist besonders an einem BarCamp: die Session kann man jederzeit verlassen und eine neue aufsuchen. In „Verschlüsselung mobil“ prallen unterschiedliche Weltansichten aneinander. Wie sicher ist man vor Angriffen aus den Netz, wie sollte man mit Passwörtern umgehen, wie werden Dateien richtig verschlüsselt? Und vor allem: Wie schütze ich meine Privatsphäre vor Regierungsapparaten? Muss ich das überhaupt? Jede Meinung pendelt sich irgendwo zwischen Paranoia und absolutem Vertrauen ein. Das Schöne: es bleibt trotzdem sachlich. Verschwörungstheorien sind hier fehl am Platz. Und kommen erst gar nicht auf. Am Ende ziehe ich mein persönliches Fazit: Eigentlich mache ich nicht viel falsch. Sichere Passwörter sind nie falsch. 12:20 Uhr. Die Schlange zum Mittagessen ist lang. Sehr lang. Kein Wunder, es gibt Rucola-Tomatensalat an Oliven-Balsamico-Dressing. Und Vollkornnudeln mit einer veganen Soße. Es schmeckt einfach herrlich. Für den Nachtisch habe ich dennoch keine Zeit: Jannis Kuhlencord muss noch interviewt werden, also lotse ich ihn ins Atelier. Da ist es ruhig genug, um den Recorder mitlaufen zu lassen. 14:33 Uhr, weiter geht's mit Valentin Bachem. Dieses Mal geht es um das Thema Creative Commons. Das sind Lizenzen, unter denen Bilder veröffentlicht werden können. Sie ermöglichen anderen, diese Bilder zu verwenden, ohne ein Urheberrecht zu verletzen, und garantieren dem Urheber auf der anderen Seite Sicherheit. In der Welt der digitalisierten Medien ist das immer wichtiger. Wir diskutieren darüber, wie man solche Bilder richtig verwendet, was bei den verschiedenen Lizenzformen zu beachten ist, und wie man sie im Printmedium einsetzen kann. Ich twittere nichts, lerne aber umso mehr. 15:17 Uhr. Kaffeepause. Cupcakes gibt es nicht, dafür eine Drohne. Torsten Schmitt, alias Pixelaffe, hat das edle Teil mitgebracht. In guter Geek-Manier ergötzen sich eine Handvoll Leute an den Aufnahmen, die er zeigt. 15:50 Uhr, die Abschluss-Session wird eingeläutet. Wer will, bringt Vorschläge ein, kritisiert, hinterfragt oder lobt schlichtweg. Ein wichtiger Punkt, der fällt: Mehr junge Menschen, gerade Schüler für das BarCamp begeistern. Als junger Mensch kann ich dem nur zustimmen. Dann wird aufgeräumt. Stühle stapeln, Flaschen einsammeln, sauber machen. (Fast) alle packen mit an. Bis es dann schließlich heißt: Soweit alles fertig.

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