Kolumne: Ich sag’s mal so Nicht jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

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„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, stellte einst Hermann Hesse fest, doch ich denke, das hat er nicht ganz zu Ende gedacht, denn es gibt nachweislich auch Anfänge, denen einiges innewohnt, aber kein Zauber. Der Anfang vom Ende zum Beispiel, um mal ein krasses Beispiel zu nennen. Oder der Anfang einer Magen-Darm-Grippe. Auch wenig zauberhaft, genau so wie Mitte und Ende.

Für miese Anfänge von Büchern und Geschichten gibt’s sogar einen Wettbewerb, den Bulwer Lytton Fiction Contest, es geht im Groben darum, wie der erste Satz des fürchterlichsten vorstellbaren Romans lauten könnte. 2010 etwa gewann ein Text von Molly Ringle aus Seattle, der übersetzt folgendermaßen beginnt: „Im ersten Monat von Ricardos und Felicitys Affäre begrüßten sie einander bei jedem gestohlenen Rendezvous mit einem Kuss, einem langwierigen, ausgehungerten Kuss, Ricardo züngelte und saugte an Felicitys Mund, als wäre sie eine gigantische im Käfig montierte Wasserflasche und er die durstigste Rennmaus der Welt.“ Aller Anfang ist schwer, klar, aber ein wie auch immer gearteter Zauber hat’s hier auch schwer, das dürfte klar auf der Hand liegen.

Hermann Hesse hat nicht immer recht

Also halten wir mal fest: Hermann Hesse hatte in vielem, aber nicht in allem recht. Und wenn man am Anfang eines Jahres keinen Zauber, ja nicht mal den Hauch eines Höhenflugs verspürt, dann ist das völlig okay. Das neue Jahr fühlt sich an wie das alte? Kein Grund zur Panik, das geht vielen so. Eigentlich allen, die keinen Kalender mit Sprüchen haben wie „Ein neues Jahr beginnt. Zeit für neue Träume. Neue Ziele. Mehr Liebe. Neue Abenteuer. Mehr Reisen. Neuanfänge. Auf in ein gutes Jahr“ Autor: Lieblingsmensch.

Lieblingsmensch ist eine Freiburger GmbH, bei der sich die Esoterikerin von heute, vielleicht sind auch ein paar Esoteriker dabei, mit Weisheiten für alle Lebenslagen eindecken kann, gedruckt auf Tassen, T-Shirts und eben Kalender. „Lass dir dein Leuchten nicht nehmen, nur weil es andere blendet“ steht auf den Titelblättern oder „Kein Gefühl ist so stark wie Meerweh“ oder „Kaufe vier Kalender und bezahle nur drei“. Ach nein, sorry, das letzte ist ein Sonderangebot.

Lieber Rennmaus als Lieblingsmensch

Also ehrlich, wenn ein Jahr schon so losgeht, mit vorgedrucktem Schwachsinn, ersonnen mutmaßlich von einer Künstlichen Intelligenz – oder sollte man sagen: einer Künstlichen Blödheit –, dann möchte man auf gar keinen Fall ein Lieblingsmensch sein, lieber noch eine montierte Wasserflasche oder eine durstige Rennmaus, wenn’s denn gar nicht anders geht. Liebe Mrs. Molly Ringle aus Seattle, gegen die Sprücheklopfer von Lieblingsmensch und Co. ist Ihr Romaneinstieg ein Ausbund an Originalität und Sprachkraft. Meisterhaft.

Vor diesem Hintergrund wird das neue Jahr ja vielleicht doch noch gut. Vielleicht wenigstens am Anfang. Die Lieblingsmensch-KI würde wohl schreiben: „Ein Jahr ist wie eine Packung Toastbrot. Man reißt sie auf, frisst die ersten Scheiben ungetoastet. Man röstet, tut Butter und Marmelade drauf. Man vergisst. Und am Ende ist alles schimmlig, obwohl gar keine 365 Schreiben drin waren.“

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