Speyer Missbrauchsfälle: Ex-Kommissar sichtet Kirchenakten

 Aktenstudium im Landeskirchenrat: Hans-Jürgen Wallat.
Aktenstudium im Landeskirchenrat: Hans-Jürgen Wallat.

Der frühere Polizeikommissar Hans-Jürgen Wallat sichtet in Speyer Personal- und Disziplinarakten der Pfälzer Kirche. Der Pensionär spürt Strukturen nach, die sexualisierte Gewalt begünstigen oder deren Aufarbeitung erschweren. Ein Zwischenergebnis: Nicht alle Verdachtsfälle haben sich bestätigt, aber auch nicht alles steht in den Akten.

Es ist keine leichte Arbeit, die sich Hans-Jürgen Wallat vorgenommen hat. Seit einem Vierteljahr sichtet der 73-Jährige im Speyerer Landeskirchenrat, der höchsten Verwaltungsbehörde der Evangelischen Kirche der Pfalz, Personal- und Disziplinarakten. Im Fokus des Ex-Polizisten aus Römerberg, früher auch als Ortsbürgermeister von Lingenfeld bekannt, sind Fälle von sexualisierter Gewalt.

Die Erfassung möglicher Tatbestände ist Teil einer breit angelegten Studie zur sexualisierten Gewalt und anderen Missbrauchsformen im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie. Ziel des im Dezember 2020 gestarteten Forschungsprojekts ist eine Analyse von Strukturen, die sexualisierte Gewalt begünstigen oder die Aufarbeitung erschweren. Auch die Perspektive Betroffener gehört dazu. Ergebnisse sollen im Herbst vorliegen.

Stundenweise im Büro

Drei Tage in der Woche sitzt der Pensionär Wallat für jeweils sechs bis sieben Stunden in seinem Büro am Speyerer Domplatz über den Papieren. „Da ist man abends schon geschlaucht“, sagt er. Das sogenannte „Teilprojekt E“ schreibt den Landeskirchen zum einen vor, die Disziplinarakten aller Pfarrpersonen seit dem Jahr 1946 auf Hinweise von sexualisierter Gewalt durchzusehen. Zum zweiten müssen alle in der jeweiligen Landeskirche bisher bekannten Missbrauchsfälle in den zugänglichen Akten nachgesehen werden. Auch privatrechtliche Verträge, bei denen die Kirchengemeinde der Aussteller ist, etwa im Fall von Kitas, gehören dazu.

Der Grund, dass er sich für das schwierige Thema interessiert und die befristete Stelle übernahm, liegt vor allem an Wallats Berufsleben. 45 Jahre lang war er Kriminalkommissar, „mit Leib und Seele“, wie er sagt. Zuletzt war er für Tötungsdelikte zuständig. Sexuelle Gewalt spielte in den letzten Jahren bis zu seiner Pensionierung eine immer stärkere Rolle, erzählt er. „Stalking“ wurde ein Tatbestand, Beratungsstellen für Fälle von Gewalt gegen Frauen und Männer entstanden, dazu kamen Kinder-Interventionsstellen und die Kinderschutzdienste in Rheinland-Pfalz.

„Glücksfall für uns“

„Herr Wallat ist ein Glücksfall für uns“, sagt Oberkirchenrätin Bettina Wilhelm, die Missbrauchsbeauftragte der pfälzischen Landeskirche. So müssten Begrifflichkeiten nicht erst geklärt werden, da er das Thema bestens kenne. „Ich versuche, zwischen den Zeilen zu lesen“, sagt Wallat. Nicht immer sei gerade in älteren Akten das Thema Missbrauch klar benannt worden. Datenschutz-bedingt werden aus den Namen der Verdächtigten und der Opfer Fallnummern.

Vier Fälle, die der Landeskirche nicht bekannt waren, hat Wallat bisher ans Licht gebracht. „Die Beschuldigten sind alle tot“, sagt die Oberkirchenrätin. Teilweise seien die Namen der Opfer unbekannt. Insgesamt seien der Unabhängigen Aufarbeitungskommission der Landeskirche bisher neun Missbrauchsfälle bekannt, sagt Wilhelm. Von 1947 bis 2022 seien es 43 Verdachtsfälle, die recherchiert wurden: von verbalen Entgleisungen bis zu mehrfacher Vergewaltigung. „Nicht alle haben sich bestätigt.“

Disziplinarverfahren sind dokumentiert

Allerdings ist nicht alles, was passiert ist, auch in den Akten zu finden. Nach Personalaktenrecht der Landeskirche müssen negative Vorkommnisse nach einer gewissen Zeit aus den Akten entfernt werden – wie bei staatlichen Institutionen auch, sagt Wilhelm. Wenn aber ein Disziplinarverfahren geführt wurde, sind die Akten dazu im Archiv vorhanden.

Oberkirchenrätin Wilhelm sieht die Studie vor allem als Möglichkeit der Prävention. Es gehe darum, Lehren zu ziehen aus der Information, wie die Kirche mit solchen Fällen umging. „Wir wollen verhindern, dass das wieder passiert.“ 2018 beschloss die pfälzische Landessynode das „Gesetz zum Schutz vor sexualisierter Gewalt“ und brachte Schulungs- und Schutzkonzepte auf den Weg. Im Dezember 2021 wurde Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst in den Beauftragtenrat der EKD zum Schutz vor sexualisierter Gewalt berufen.

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