Speyer „Eine dauernde Bürgerinitiative“

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„Bleibt es bei den Parteien? Oder gibt man den Parteien ein drittes, eine freie Wählergruppe aus freien Bürgern hinzu, die gewissermaßen als Ventil die Starre des Parlaments lösen kann?“ So fragte Rechtsanwalt Hans Hettinger am 28. September 1956 die 30 in der „Alten Schwartz’schen Brauerei“ versammelten Bürger. Als wenig später die Aufstellung einer Kandidatenliste für die bevorstehende Kommunalwahl beschlossen wurde, hatte sich die Frage schon beantwortet. Das war die Geburtsstunde der Speyerer Wählergruppe (SWG), die am heutigen Samstag ihr 60-jähriges Bestehen feiert.

Vorausgegangen war ein erstes Gespräch interessierter Speyerer Bürger im August jenes Jahres in der Weinstube „Zum Rössel“, zu dem Philipp Back, Hans Hettinger, Georg Wilhelm Fleischmann, Georg Hornbach und Richard Göck eingeladen hatten. Die Weinstube gilt als Geburtshaus der Wählergruppe. Der Start in die Kommunalpolitik gelang bestens. Die neue politische Kraft eroberte vier Sitze. In den Stadtrat zogen ein: Hans Hettinger, nach dem sich die Wählergruppe benannte, Rudolf Zechner, Gert Boegner und Roland Jossé. Und Hans Hettinger stellte in der konstituierenden Sitzung stolz fest, rund 2500 Wähler hätten ihre Überzeugung zum Ausdruck gebracht, „dass im Rat der Stadt eine Wählergruppe wohl Sitz und Raum haben kann“. Die Wählergruppe sei zu einer „ersprießlichen Zusammenarbeit“ mit den übrigen Fraktionen bereit. Daran ließ es die Gruppe in sechs Jahrzehnten nicht fehlen, gleich, wie stark sie war, ob sie alleine gegen eine große Koalition stand oder in ein politisches Bündnis eingebunden war. Dabei bewies die Wählergruppe durchaus Flexibilität. Entgegen einem der Grundgedanken von Urgestein Gert Boegner („Unabhängigkeit schließt Koalitionen aus“), entschied sie sich 1994, in einer alsbald als „historisch“ qualifizierten Koalition mit CDU und Grünen mitzumachen. Daraus verabschiedete sich die Wählergruppe fünf Jahre später offiziell, beschloss aber mit der CDU eine „partnerschaftliche Zusammenarbeit“, die letztlich bis 2014 dauerte. Unabhängig von der jeweiligen Konstellation im Rathaus hat die SWG über Jahrzehnte bei sämtlichen bedeutsamen kommunalpolitischen Vorgängen ein gewichtiges Wort mitgeredet. Sie hat manchen Stein ins Rollen gebracht, wie etwa in der Affäre um das „Rote Meer“, das Binsfeld, politische Weitsicht bewiesen, etwa mit der Forderung nach einem hauptamtlichen Beigeordneten. Boegner hatte beizeiten erkannt, dass Ehrenamtlichkeit bei der Fülle der Arbeit nicht mehr ausreicht. Und sie hat es verstanden, sich nicht von anderen vereinnahmen zu lassen, vielmehr – nicht zur Erbauung der Partner oder des jeweiligen Oberbürgermeisters – Eigenständigkeit dokumentiert. Die SWG war jedoch trotz ihres Selbstverständnisses als Kontrollinstanz gegenüber der Verwaltung auch durchaus bereit, im Bürgermeister-Kollegium mitzumischen. Sie hat im Laufe der Zeit eine ganze Reihe von Beigeordneten gestellt. Die Grundidee der Männer der ersten Stunde sei gewesen, sich unabhängig von Parteien für Speyer einzusetzen, äußerte der langjährige Vorsitzende Martin Roßkopf zum 50. Geburtstag der SWG. Hat Gert Boegner einst geglaubt, dass die Gruppe sechs Jahrzehnte überstehen würde? Der 90-Jährige heute: „Wenn man ein Amt antritt, denkt man nicht an das Ende, sondern an Ziele. Und wir haben unsere Ziele alle erreicht, mit der Einschränkung, dass wir an der Verschuldung der Stadt nichts ändern konnten.“ Warum ist die SWG mit derzeit 60 Mitgliedern auch sechs Jahrzehnte nach Gründung unverzichtbar? Vorsitzender Frank Scheid: „Weil wir nur auf Speyer bezogen sind und nur Speyerer Themen im Blick haben. Eigentlich sind wir eine dauernde Bürgerinitiative.“ Zahlen, Namen, Termine —1956: 14,5 Prozent und vier Sitze im 31-köpfigen Stadtrat; 1960: 11,4 Prozent, drei Sitze; 1964: 7,6 Prozent, zwei von inzwischen 37 Ratssitzen; 1969: 16,9 Prozent, sechs von nun 43 Sitzen im Rat; 1974: 12,4 Prozent, fünf Sitze; 1979: 9,1 Prozent, vier Sitze; 1984: 9,2 Prozent, vier Sitze; 1989: 8,8 Prozent, vier Sitze; 1994: 7,4 Prozent, drei Sitze; 1999: 8,3 Prozent, vier Sitze; 2004: 9,5 Prozent, fünf von jetzt 44 Sitzen; 2009: 13,3 Prozent, sechs Sitze; 2014: 13,5 Prozent, sechs Sitze. —Vorsitzende: Hans Hettinger (1956 bis 1969); Gert Boegner (1969 bis 1984); Hans-Jürgen Große (1984 bis 1989); Michael Kuhnlein (1989 bis 1994); Michael Hoffmann (1994 bis 1999); Hans-Eberhard Bonnet (1999 bis 2004); Rolf Wunder (2004 bis 2009); Martin Roßkopf (2009 bis 2014); seitdem Frank Scheid. Beigeordnete: Hans Hettinger (1956 bis 1965) Hans-Eberhard Bonnet (1969 bis 1974); Karin Feucht (1979 bis 1984); Inge Irlweck (1994 bis 1999); Roland Kern (1998 bis 1999); Rolf Wunder (1999 bis 2007); Frank Scheid (2007 bis 2015). —Ihren 60. Geburtstag feiert die SWG heute in „Philipps Weinbar – Zwischen den Engeln“. Am 29. November startet im Restaurant Philipp Eins die Veranstaltungsreihe „SWG im Dialog“ mit Professor Peter Eichhorn. Thema zum Auftakt: „Kommunalpolitik in der Krise“. |le

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