Speyer Zigaretten, Kaffee und Testosteron

Mit einer großzügigen Portion Kaffee scheint Schriftsteller und Strafverteidiger Ferdinand von Schirach seine essayistische Biografie, die seit diesem Monat auch in den Speyerer Bestsellerlisten ihren Platz hat, begonnen zu haben. Man könnte meinen, er habe sich mit dem bitteren Genussmittel den Mut zur schnellen Abwicklung schwieriger Lebenskapitel und der nötigen Rationalität angetrunken.

Andere hätten über jene Lebensjahre, die von Schirach vom dunklen familiären Anwesen in die harsche Internatsanstalt führen, die ihn die Erfahrung fehlender Selbstbestimmung lehren und in einen Suizidversuch treiben, einen ganzen Roman geschrieben. Aber von Schirach ist nicht Marcel Proust. Er bringt solche Zeiten lieber schnell hinter sich und macht mit Anekdoten, wie der über Mick Jagger und Kultfilmbesprechungen weiter. Mit dem Titel „Kaffee und Zigaretten“ macht er sich zum Mitglied einer eingeschworenen Intellektuellengemeinschaft rauchender Kaffeetrinker. Lakonisch, abgeklärt, zugleich untröstlich bietet er der Welt die Stirn und unterhält sie dabei. Dass er besonders vor dem Schlafengehen gerne große Mengen Kaffee trinke, dann träume er nämlich so richtig schnell, wie in einem Actionfilm zögen die Bilder an seinem inneren Auge vorbei, eröffnet übrigens Steven Wright seinem flüchtigen Bekannten Robert Benigni in der ersten Szene des unabhängigen amerikanischen Films „Cigarettes and Coffee“ von Regisseur Jim Jarmusch ( 2003). Es scheint ein Paradigmenwechsel in Sachen Schicksals-Management im Raum zu stehen: der autobiografische Roman von Jayrôme Robinet mit dem Titel „Mein Weg von einer weißen Frau zu einem Mann mit Migrationshintergrund“ stellt der von Schirach’schen Ethik des Aushalten-Könnens und der Akzeptanz eines glücksfernen Lebensgefühls, eine Verpflichtung zur Selbstverwirklichung und zur Suche des Glücks gegenüber. Jayrôme Robinet beginnt seine Geschichte mit einer Mutprobe des Alltags, die für ihn in Analogie zu seinem ersten Sprung vom Zehnmeter-Brett steht: das Betreten der Männer-Umkleide im Fitnessstudio. Am Ende der Geschichte springt der Teenager mit dem Namen Céline vom Turm, und die gleiche Person, der Erwachsene namens Jayrôme, traut sich in die Männerumkleide. Robinets Buch ist richtungsweisend in der aktuellen Debatte über nicht binäre Gender-Identitäten, denn es gibt bewegende Einblicke in die emotionale Dimension der geschlechtsspezifischen Identitätsfindung. Mit Mitte Dreißig erlebt Jayrôme Robinet das zweite Mal eine Art Pubertät – er beginnt einen hormonellen Prozess der Geschlechtsangleichung, bei der er sein körperliches Aussehen daran anpasst, wie er sich schon immer fühlt, als Mann nämlich, als Jayrôme. Der biologische Angleichungsprozess geht Hand in Hand mit dem sozialen: Jayrôme muss sich gegenüber der Gesellschaft in seiner neuen Rolle als Mann behaupten, zunächst gegenüber den Behörden, dann der städtischen Öffentlichkeit, seinem persönlichen Umfeld. Jayrôme ist ein Grenzgänger, der nicht nur die Geschlechtergrenzen überschreitet: er stammt aus dem Norden Frankreichs und erlebt seinen Wandel in Berlin. Dabei bekommt er auch teils unerwartete Reaktionen zu spüren, die nicht nur seine geschlechtliche Identität, sondern auch seine (vermutete) ethnische Identität betreffen: Dank Testosteronbehandlung wächst ihm nach kurzer Zeit ein Bart, dank dem er sich im Auge der betrachtenden Stadtbevölkerung innerhalb kurzer Zeit von der verführerisch exotischen Französin zum verdächtig wirkenden Mann mit Migrationshintergrund verwandelt. Wie anders als zuvor ihn die Öffentlichkeit „liest“ – wie seine Präsenz, seine Worte, seine Gesten wahrgenommen werden: das überrascht Jayrôme Robinet. Gleichzeitig demaskieren diese unterschiedlichen Reaktionen auf eine und dieselbe Person unsere Voreingenommenheit und unser schnelles Urteil über andere. Das Buch ist eines übers Sehen und Gesehen-Werden. Aufrichtig, entschlossen, voller Leidenschaft und nicht ohne Humor beschreibt Robinet, wie er es geschafft hat, sich selbst auch für die Umwelt sichtbar zu machen und auch mit den Folgen klarzukommen.

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