Speyer Starke Stimme aus der Peripherie

Sie führen uns in die Peripherien Europas, dorthin, wo das Terrain brüchig wird und der Herzschlag der urbanen Zivilisation als fernes Echo nachhallt. Hier finden sie neue Perspektiven auf die Gegenwart, auf das was wir unter Normalität verstehen. Die Autorinnen der Stunde heißen Inger-Maria Mahlke, Dörte Hansen und Juli Zeh – auch im Speyerer Buchhandel.

Eigentlich gehört auch noch Judith Schalansky mit ihrem aktuellen Werk „Verzeichnis einiger Verluste“ zu dieser Liste der deutschsprachigen Herbststimmen. Denn es zieht sich eine gemeinsame Faszination durch die Werke der Genannten – eine schriftstellerische Erkundung des Verlustes, des Verschwindens, des Verschüttgegangenen oder -geglaubten. In „Archipel“, dem Roman, mit dem Mahlke die Jury des Deutschen Buchpreises überzeugte, öffnet die Autorin als Nahezu-Einheimische ihren Lesern die Tore zu Teneriffa, den Familien der Insel und ihren Geschichten der letzten 100 Jahre. Als Geschichtsschreiberin, die im Grunde genommen die Logik des Erzählens ablehnt, interessiert sie sich für die Leerstellen im Familienalbum und für die Räume zwischen den Bildern. Ursache und Wirkung sind keine Prinzipien, mit denen sie diese Lücken (er-)schließen möchte. Eher noch vertraut sie in ihrer Suche nach verlorenen Zwischenräumen dem Surrealismus, der immer wieder vorkommt. Die Frage, die sich im Laufe des Romans stellt, lautet: Sind es die Insel und ihre Gesellschaft, die sich dem logischen Verlauf der Geschichte durch das Surreale entziehen? Oder ist Mahlkes literarisches Argument gegen historische Logik ein universelleres, das auch anderswo Berechtigung hätte? Mahlkes Roman unterscheidet sich in diesem Ansatz sehr von Zehs auch auf dem kanarischen Archipel, auf Lanzarote, angesiedeltem „Neujahr. Zeh sucht nämlich gerade nach Ursachen, gräbt sich ins Innere ihres Protagonisten, einem jungen Familienvater mit Panikanfällen. Die Urgewalt der Vulkanlandschaft von Lanzarote wird bei Zeh zur parabelhaften Kulisse für eine existentielle Suche nach dem Verdrängten. Hansens Peripherie ist die Dorfkultur Nordfrieslands, deren langsames Verschwinden sie als Chronistin in ihrem Roman „Mittagsstunde“ festhält. Ähnlich einer Volkskundlerin, die Wandel dokumentiert und irgendwie doch noch versucht, aussterbende Kulturpraktiken vor dem Vergessen zu retten, hält Hansen die Selbstverständlichkeiten des Dorfalltags fest: die Stunde des Mittagsschlafes, das Regelwerk der nachbarlichen Gastfreundschaft, die Eigentümlichkeiten der Dorfbewohner und ihre persönlichen Widerborstigkeiten. Wie sich zeigt, sind diese oft Reaktionen auf zu schnellen oder fehlenden Wandel zurückzuführen. Schalansky war mit „Atlas der abgelegenen Inseln“ (2009), das sich schön neben Zeh und Mahlke liest, Vorreiterin. In ihrem neuen Werk, der Sammlung „Verzeichnis einiger Verluste“, meditiert sie anhand von ausgewählten verschwundenen Orten und Dingen – unter anderem dem Palast der Republik – über die Vergänglichkeit. Dabei sucht sie nach dem Schmerz des Verlustes genauso wie nach der Erlösung des Vergessens. Und nach mehr Gelassenheit im Umgang mit „Historischem“. Denn, so konstatiert sie im Vorwort: „Letztendlich ist alles, was da ist, schlichtweg das, was übrig geblieben ist.“

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