Speyer Ausdruck und Emotion sind alles

Eine überragende Gestalt der Musikgeschichte und überhaupt der europäischen Kulturgeschichte haben die Schwetzinger Festspiele mit einem Hauptwerk in ihrem jüngsten Speyerer Programm und vorgestellt. Die Rede ist vom Komponisten und Dichter Guillaume de Machaut und seiner Messe de Nostre Dame. Aufgeführt wurde das anregende Stück von dem in Antwerpen ansässigen Vokalensemble „Graindelavoix“ unter seinem Leiter Björn Schmelzer.

Der in der Nähe von Reims geborene Machaut, ein vielseitiger, hoch gebildeter, innovativer Geist, bereiste in Begleitung seines Dienstherren, König Johann von Luxemburg ganz Europa. Er war bedeutend als Literat, und als Musiker galt er als Hauptvertreter der Richtung „Ars Nova“ (Neue Kunst). Eigentlich handelte es sich dabei um den Titel einer Abhandlung, verfasst vom Sekretär des französischen Königs, dem Dichter, Komponisten, Musiktheoretiker und Bischof Philippe de Vitry und meinte neue Möglichkeiten und Orientierungen in der Musik des späten Mittelalters. Er gab den Namen einer ganzen musikhistorischen Epoche. Wichtig in diesem Zusammenhang war auch die vom Benediktinermönch Guido d’Arezzo entwickelte Notenschrift, die im Vergleich zur früheren gregorianischen Neumenschrift entscheidend erweiterte mehrstimmige Strukturen und viel genauere rhythmische Fixierungen ermöglichte. Tatsächlich darf Machaut als Pionier auf dem Gebiet der Mehrstimmigkeit angesehen werden. Seine Messe de Nostre Dame, die am Dienstagabend in der Krypta des Doms zu hören war, gehört zu den ältesten mehrstimmigen Vertonungen des Ordinariums. Im Speyerer Programm von „Graindelavoix“ wurden zwischen die einzelnen Sätze der Messe zwei Motetten von Machaut und fünf gregorianische Choräle eingeschoben. Zu begegnen war in der Krypta einer fernen musikalischen Welt, die durchaus ihren Reiz zu entfalten vermochte. Charakteristisch für sie sind unter anderem das polyphone Musikdenken, die vielen Melismen (mehrere Töne auf einer Silbe) und lang gehaltene „Pedaltöne“, vorzugsweise im Bass. Das Ensemble aus acht Sängern hat für diese Musik seinen ganz eigenen Stil entwickelt, jenseits der historisch informierten Praxis. An Schöngesang zeigt es wenig Interesse, abgesehen von einigen wunderschön abgerundeten Pianoklängen, die die Gruppe durchaus zu produzieren versteht, wenn sie es denn will. „Graindelavoix“ bedeutet aber Rauheit der Stimme, und dementsprechend gab es bei klagenden Akzenten wüste Aufschreie zu vernehmen, von unten angeschliffene Töne, jaulende Glissandi bei Seufzermotiven und auch gutturale Töne. Vorrang, und zwar absoluten, hatte der Ausdruck. Und tatsächlich war der expressive Gehalt der Aufführung ganz außergewöhnlich. Besonders beeindruckte dabei die pausenlos wechselnde Dynamik mit ihren höchst vielfältigen raffinierten Facetten. Letztere hatte der Leiter des Ensembles mit äußerstem gestischen Aufwand überaus intensiv nachgezeichnet.

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