Über den Kirchturm hinaus Wortschatz für die Seele

Michael Landgraf
Michael Landgraf

Was Martin Luther vor 500 Jahren mit seinen Neuschöpfungen erreichen wollte.

Was wären wir ohne Nächstenliebe? Was, wenn wir nicht in der Lage wären, etwas mit Herzenslust oder Feuereifer anzugehen? Gewissensbisse haben, ein Machtwort sprechen, einen Denkzettel bekommen, eine Richtschnur setzen, den Lückenbüßer spielen, friedfertig, langmütig oder auch mal ein Lästermaul sein? Dies alles sind Worte, die vor genau 500 Jahren das Licht der Welt erblickten. Martin Luther hatte sie für seine neue Bibelübersetzung verwendet, besser gesagt: er hatte sie extra dafür neu erschaffen. Neben den neuen Begriffen schuf er ebenso viele Redewendungen wie etwa „im Dunkeln tappen“, „Perlen vor die Säue werfen“ oder „ein Herz und eine Seele sein.“

Die Bibel gab es zwar zuvor bereits auf Deutsch, gedruckt sogar schon rund 50 Jahre vor Luther. Allerdings verstand die darin verwendete Sprache keiner so richtig. Ganz im Gegensatz zu Luthers Übersetzung. Der Reformator hatte die Bibel so übertragen, dass weite Teile der Bevölkerung ihre Botschaft begreifen konnten. Sein Weg war, genau zu hören, wie Männer und Frauen, aber auch wie Kinder redeten. Beim Übersetzen schaute er ihnen „aufs Maul“, wie er es später nannte. Doch reichte die Sprache der Menschen damals wohl nicht aus, um vieles auszudrücken, was tiefer geht.

Bibel spiegelt das Leben

Durch seine Wortneuschöpfungen wollte Luther die Seelen der Menschen erreichen. Er wusste, dass die Bibel ein Buch ist, das die Vielfalt des Lebens spiegelt. Sie erzählt von der Beziehung zwischen Gott und Mensch sowie den Menschen untereinander. Viele ihrer Gedanken drücken Emotionen wie etwa Freude und Leid aus. Gerade in Situationen, wo ich vielleicht in der Trauer sprachlos werde, finde ich darin Worte, die meiner Seele Halt geben. So kann ich Bibeltexte der Klage und der Trauer, aber auch der Hoffnung und des Trostes nachsprechen, wenn mir selbst die Worte fehlen. Unübertroffen ist da der Psalm 23, in dem der gute Hirte im „finsteren Tal“ bei mir ist und mich zur „grünen Aue“ führt.

Egal, was man sonst von dem Reformator hält: Luthers Leistung als Bibelübersetzer und sein Wortschatz, der uns heute im Deutschen zur Verfügung steht, ist einzigartig. Sprache entwickelt sich jedoch weiter. Wir verwenden immer neue Sprachbilder, die aus unserer aktuellen Lebenswirklichkeit entspringen. Daher braucht es auch heute neue Bibelübersetzungen wie die Basis-Bibel, die sich am digitalen Lesen orientiert. Doch muss jede Bibelübersetzung auch eine Sprache sprechen, die unser Inneres anspricht. Nur so kann die Bibel für uns ein Wortschatz für die Seele sein.

Michael Landgraf, Leiter des Religionspädagogischen Zentrums und Bibelbeauftragter der Landeskirche

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