Neustadt Kennenlernen und entkrampfen

„Jüdische Lebenswelten in Deutschland – heute!“: Die Ausstellung in der Stiftskirche dokumentiert sie anhand von Kurzportraits j
»Jüdische Lebenswelten in Deutschland – heute!«: Die Ausstellung in der Stiftskirche dokumentiert sie anhand von Kurzportraits junger Menschen jüdischer Herkunft, von denen sich viele ganz bewusst für Deutschland entschieden haben. Kirsten Harms und Bruno Raatz lesen es mit Interesse.

«Neustadt». „Die Rechnung der Nazis ging nicht auf!“ Mit großer Genugtuung verweist Eberhard Dittus, Kopf der Gedenkstätte für NS-Opfer im Quartier Hornbach in Neustadt, auf das blühende jüdische Leben im heutigen Deutschland, 73 Jahre nach dem Ende des braunen Terrors. Von dieser unglaublichen Wiedergeburt kündet auch eine Wanderausstellung, die seit gestern als Teil der Neustadter Veranstaltungen rund um den Holocaust-Gedenktag in der Stiftskirche zu sehen ist.

„Jüdische Lebenswelten in Deutschland heute“ heißt die vom Berliner Künstlerkollektiv „Migrantas“ konzipierte und vom Bundesfamilienministerium geförderte Schau, die nach Dittus’ Angaben jetzt in der Stiftskirche erstmals in Rheinland-Pfalz der Öffentlichkeit gezeigt wird. Im Zentrum stehen junge Leute mit jüdischem Background, die meisten in den 80er und 90er Jahren geboren – manche in Deutschland, manche in Israel, manche in der Ukraine –, die auf jeweils einem Plakat vorgestellt werden und sich zum Leben in Deutschland und ihrer jüdischen Identität äußern. So wie Oren, 1981 in Köln geborener Historiker und Kommunikationsexperte, der 2015 die „European Maccabi Games“ in Berlin organisierte, die größte jüdische Sportveranstaltung Europas, die damals erstmals überhaupt in Deutschland zu Gast war, und der von sich sagt, dass er erst dadurch ein Gefühl für seine jüdischen Wurzeln entwickelt habe. Oder Katia, Soziologin und Medical-Managerin, 1989 in der Ostukraine geboren, die Deutschland ganz schlicht „meine Zukunft“ nennt. Ein großes Kompliment erteilt auch Yael, Filmemacherin aus Israel, die seit 2005 in Berlin lebt, an dieses Land: „Ich fühle mich nirgendwo vollkommen zu Hause, aber zu einem gewissen Grad ist Deutschland meine Heimat geworden.“ Und David, 1986 in Berlin geborener PR-Berater, berichtet, wie er die WM 2006 als „Wendepunkt in meiner Identitätsfindung“ erlebte: „Ich habe im Deutschlandtrikot die deutsche Mannschaft angefeuert und mich zum ersten Mal als ,ganz normaler Deutscher’ wahrgenommen.“ Dass sich das Heimatgefühl aber nicht immer so zwanglos einstellt, bekundet Yascha Mounk, 1982 in München geboren und heute Dozent in Harvard: „In Deutschland fühlte ich mich mit zunehmendem Alter immer weniger als Deutscher und immer mehr als Jude.“ Vom immer noch oder schon wieder weit verbreiteten Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft, den zahlreiche Studien belegen, ist in der Schau aber allenfalls am Rande die Rede. Ihr geht es eher darum, die Vielfalt jüdischen Lebens im heutigen Deutschland sichtbar zu machen und für „Entkrampfung“ zu werben. Daher begegnet man Menschen, die den jüdischen Glauben für sich als konstitutiv ansehen und solchen, die sich selbst als säkular bezeichnen. Solchen, die sich beruflich mit jüdischen Traditionen auseinandersetzen wie Shlomit Tulgan, die ein jüdisches Puppentheater in Berlin leitet, und anderen, die wie die Unternehmerin Vivian ganz „normalen“ Tätigkeiten nachgehen. Mut machen dabei die Zahlen: Lebten 1950 rund 25.000 Juden in der Bundesrepublik und 400 in der DDR gibt es heute wieder 108 jüdische Gemeinden bundesweit mit rund 120.000 Gläubigen. Die Zahl der säkularen Juden dürfte mindestens doppelt so hoch sein. Allein in Berlin leben rund 20.000 junge Israelis. Für die jüdischen Gemeinden in der Pfalz nennt Dittus rund 600 Mitglieder. Wie viele es vor dem Holocaust waren, belegt der von Neustadter Schülern angelegte Stadtplan mit dem Überblick über „arisierte“ Anwesen in der Neustadter Kernstadt: 97 Nummern finden sich da, davon allein 14 in der Hauptstraße. Die Ausstellung Die Wanderausstellung ist bis 25. Februar in der Neustadter Stiftskirche zu sehen. Fünf Tafeln zur Geschichte stehen im südlichen Seitenschiff, die „Personentafeln“ im nördlichen. Öffnungszeiten: montags bis samstags 11–15 Uhr oder sonntags nach dem Gottesdienst. Absprache für Schulklassen unter 0172-7474419.

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