Neustadt Gute Musik kennt keine Grenzen
Neustadt. Vorsicht Ansteckungsgefahr: Nach der derzeit kursierenden Grippe-Epidemie hat Neustadt nun das Rachmaninoff-Fieber erfasst. Eingeschleppt wurde es am Samstag vom Sinfonieorchester der Musikfreunde Heidelberg. Maßgeblichen Anteil an der erfolgreichen Übertragung der Rachmaninoff-Viren hatte die aus Neustadt stammende, zur Zeit in Mannheim Musik studierende Dirigentin Charlotte Bickert.
Rachmaninoff satt: Gleich zwei berühmte Werke des russischen Spätromantikers hatte das Orchester im Gepäck. Ein ungewohnter Anblick bot der dicht im engen Altarraum gedrängte 80-köpfige Klangkörper – für die Martin-Luther-Kirche eine absolute Premiere, finden dergestalt monumentale Aufführungen normalerweise in großen Konzertsälen statt. Aber gute Musik kennt keine räumlichen Grenzen. Schon gar nicht jene von Sergei Rachmaninoff: Keiner im Publikum konnte sich am Sonntagabend der unmittelbar unter die Haut gehenden Emotionalität Rachmaninoff’scher Klangwelten entziehen. Aber der Reihe nach: Welch ein Glück, dass Stanislav Novitskiy quasi auf seinem eigenen Flügel spielen durfte. Kurzerhand wurde der riesige Steinway von der Musikhochschule Mannheim nach Neustadt transportiert. Das war gut so, denn gerade bei Rachmaninoff darf man keine Kompromisse eingehen – sein 2. Klavierkonzert vereint sämtliche Superlative, die man mit der Pianistenzunft verbindet: Unübertroffen seine Virtuosität, sein Melodienreichtum, seine bezwingende Leidenschaft. Wenn der kraftvolle Russe tief in den Tastenboden greift und im langsamen Mittelsatz die Seele schwingen lässt, erinnern wir uns an die berühmte Filmszene mit Marilyn Monroe, die sich sichtlich ergriffen zu den Klängen des Adagios am Flügel räkelt. Klar, die Gefahr ins Schnulzenmilieu abzugleiten, droht in jeder Sekunde. Da bedarf es der überragenden technischen Souveränität eines Stanislav Novitskiys, der nichts unter dem Klangteppich verschwinden lässt und jeden Ton mit einer wunderbaren Brillanz und fein differenzierten Anschlagskultur ins Kirchenschiff schickt. Und wenn schon die Rede von Erotik im Werke von Rachmaninoff sein soll, dann dürfen auch in diesem Sinne dem jungen Tastenlöwen zwei glückliche Hände bescheinigt werden: Es ist das raffinierte Spiel zwischen Spannung und Entspannung, zwischen Beschleunigung und Verzögerung, das er perfekt beherrscht und das insbesondere für Rachmaninoff-Interpreten so enorm wichtig ist. Zurückhaltend, fast zaghaft gibt sich Nachwuchsdirigentin Charlotte Bickert. Ein merkwürdiger Kontrast zum Solisten, der mit geradezu athletischem Zugriff für energischen Tastendonner sorgt, dabei beeindruckende Triller- und Repetitionstechniken im Hochfrequenzmodus zelebriert. Beide, Orchester und Solist, finden sich im besagten Mittelteil zu einer einzigen Liebeserklärung an einen der schönsten und populärsten sinfonischen Sätze der Romantik. Wir genießen Charlotte Bickerts tief beseeltes Dirigat und staunen über die sensible Darstellung des Solisten, der nunmehr seine Löwenpranken zurückzieht und die starken Finger sanft über die Tasten streicheln lässt. Ein gewisses psychologisches Interesse ist eine gute Voraussetzung zum Verständnis der hochemotionalen Klangwelten Rachmaninoffs – immerhin handelt es sich beim 2. Klavierkonzert wohl um das einzige Werk in der Musikgeschichte, welches einem Hypnotiseur gewidmet ist. In engem Zusammenhang mit dieser Geschichte steht die Schaffung seiner gigantisch langen, opulent orchestrierten 2. Sinfonie: Beide Kompositionen sind das Ergebnis einer monatelangen Behandlung durch den Nervenarzt Dr. Nikolai Dahl, die Rachmaninoff aus seiner jahrelangen Schaffenskrise befreite. Für die längste Sinfonie nach Tschaikowsky steht nach der Pause ein Dirigentenwechsel an. Charlotte Bickert übergibt die Leitung an René Schuh, der in einem gewaltigen Kraftakt, ganz ohne Partitur, also völlig auswendig, das große Orchesterschiff durch die Wogen und Klippen des 60-minütigen sinfonischen Meilensteins führt. Mit gutem Gefühl für weit atmende Spannungskurven nehmen Orchester und Dirigent das Publikum mit auf ihre aufregende Reise vom Dunkel ins Licht. Höhepunkt, bevor die Kräfte im weiteren Verlauf aus verständlichen Gründen merklich nachlassen, ist der 2. Satz mit seinen prickelnden Wechselbädern aus wildem Husarenritt, eleganten Elfentänzen, satter Sanglichkeit und militärischer Strenge.