Neustadt Der Schrei nach Freiheit und die Folgen

Neustadt. 105.000 Flüchtlinge haben laut Bundesregierung seit Beginn des Syrien-Konflikts 2011 Zuflucht in Deutschland gefunden. Und es kommen noch mehr. Aber was wissen wir eigentlich über den Krieg in Syrien, über Geschichte, Religion und Kultur des Landes? In ihrem Buch „Brennpunkt Syrien – Einblick in ein verschlossenes Land“ liefert Kristin Helberg Hintergründe. Es räumt mit Klischees auf und bietet fundiertes Wissen, teils verpackt in unterhaltsame Alltagsgeschichten.

Helberg wanderte nach ihrem Politikstudium und einigen Jahren beim NDR in den Nahen Osten aus. Sie lebte von 2001 bis 2008 in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Die Nahost-Expertin arbeitet als Journalistin für ARD, ORF, SRF, das Schweizer Radio und diverse Printmedien. Nicht immer fällt es ihr in Damaskus anfangs ganz leicht, sich in die fremde Kultur einzufügen. Das Kapitel mit dem vielsagenden Titel „Die Kunst, allein zu sein“ beleuchtet auf ebenso amüsante wie tiefgründige Weise den Unterschied zwischen westlichem Individualismus und orientalischem Gemeinschaftsgefühl. Wer Syrer in Deutschland kennt, weiß genau, wovon die Autorin hier spricht. „Das Alleinsein zu genießen ist eine ziemlich westliche Angewohnheit. Syrer sind wie alle Orientalen selten und meist ungern alleine. (…) Das Konzept von Privatsphäre, von individuellem Eigentum, von materieller Besitzstandwahrung und persönlichen Rückzugsräumen – sei es in Form eines eigenen Handtuchs, eines eigenen Kleiderschrankes oder eines eigenen Zimmers – entstammt dem Materialismus und Individualismus der westlichen Welt und ist der arabischen Kultur ursprünglich fremd.“ Die Journalistin nutzt deshalb den muslimischen Feiertag, den Freitag, um endlich einmal allein sein zu können – in einer Welt, in der T-Shirts oder Schuhe zum Allgemeingut unter Geschwistern und Freunden zählen und in der die ganze Familie wie selbstverständlich mit einem Patienten ins Krankenhaus übersiedelt, damit der nicht alleine bleiben muss. Das Besondere an Helbergs Buch ist, dass bei aller westlichen Rationalität in der Analyse doch immer ihre Liebe zum syrischen Volk spürbar bleibt. „Brennpunkt Syrien“ ist dabei ein zutiefst politisches Buch, in dem die Autorin sich durchaus zugesteht, klar Partei zu ergreifen und auch die Rolle des Westens im Syrienkonflikt kritisch zu hinterfragen. Egal, ob es um das Mit- und Gegeneinander der Konfessionen, Syriens Oppositionelle, die Rolle des Landes in der Region, die Lage auf dem Golan oder um den zuerst verehrten, dann verfluchten Staatschef Bashar Al-Assad und seine alawitische Geheimpolizei geht: Helberg hat ihr Werk von der ersten bis zur letzten Seite „den Kindern Syriens gewidmet. Sie waren es, die im südsyrischen Daraa den revolutionären Funken gezündet haben, und sie sind es, die seitdem einen furchtbar hohen Preis dafür bezahlen, dass sie in Freiheit aufwachsen wollen“. Helberg erklärt, wie es nach den ersten Demonstrationen und dem Ruf nach Freiheit zu der gewaltigen Eskalation des Konflikts kommen konnte und wie er sich zu einem regionalen Stellvertreterkrieg ausgeweitet hat, der von radikalen ausländischen Kräften wie iranischen Milizionären und Hisbollah-Kämpfern auf Regimeseite und Jihadisten auf Seiten der Opposition befeuert wird. Interessant ist dabei auch ihr Blick auf die Rolle der neuen Medien und der sogenannten Bürgerjournalisten in Syrien, die Gewalt und Folter auf ihren Smartphones festhalten und im Internet dokumentieren. „In Syrien hat sich aus Ermangelung anderer Quellen eine neue Form von Journalismus herausgebildet ().Tausende von Videos zeigen die Brutalität des Krieges und den dramatischen Alltag der Revolution. () Kein Konflikt wurde bislang so umfassend medial festgehalten wie der syrische.“ Klar, dass der schnelle Informationsfluss über Internet und anderen Massenmedien da auch einige Informationen der 2014 aktualisierten Auflage inzwischen überholt hat. Das von Helberg ausführlich beschriebene berüchtigte Gefängnis von Palmyra, in dem Oppositionelle in winzigen Erdlöchern lebendig begraben wurden, existiert inzwischen nicht mehr. Die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) hat das Foltergefängnis Ende Mai dieses Jahres zerstört. Lesezeichen Kristin Helberg: Brennpunkt Syrien – Einblick in ein verschlossenes Land. Herder-Verlag, Freiburg im Breisgau, 2014. 304 Seiten, 9,99 Euro.

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