Neustadt „Unterschiede nicht glattbügeln“

Die Heilpädagogin Anne Sayer arbeitet auch mit Emojis, um in Kontakt mit ihren Patienten zu kommen.
Die Heilpädagogin Anne Sayer arbeitet auch mit Emojis, um in Kontakt mit ihren Patienten zu kommen.

Mit einer neuen heilpädagogischen Praxis bereichert Anne Sayer das therapeutische Angebot in Maikammer und erfüllt sich einen langgehegten Traum. In den Räumen eines alten Winzerhauses in der Ortsmitte bietet die staatlich anerkannte Heilpädagogin Einzelförderung und Coaching für Menschen mit Wahrnehmungsstörungen ebenso an wie soziales Kompetenztraining in der Kleingruppe. Ihr Schwerpunkt liegt dabei auf Autismus.

In den neuen Praxisräumen sieht es fröhlich aus: In den Regalen stapeln sich die Spielekästen, auf dem Boden lädt ein Spielzeugtraktor auf grünem Teppich zum „Rasenmähen“ ein. An der Wand zeigen Emojis die ganze Skala der Gemütslagen von wütend bis fröhlich. Aber die Spiele gehören zur Therapie. „Menschen mit Autismus fällt es schwer, die eigenen Gefühle auszudrücken. Visuelle Materialien wie die Emojis helfen ihnen dabei“, erklärt Anne Sayer und ergänzt, dass auch die Gefühle der Mitmenschen für Betroffene nicht einfach zu entschlüsseln seien. „Durch Spiele üben wir die soziale Interaktion.“ Autismus ist eine Entwicklungsstörung, die sich vor allem in der mangelnden Verarbeitung von Informationen und Wahrnehmungen äußert. „Menschen mit Autismus fallen auf, weil sie sich scheinbar unangemessen verhalten – sie können soziale und emotionale Signale weder aussenden noch empfangen“, so die Autismus-Fachfrau, die zugleich betont, dass es nicht „den Autisten“ gebe. „Die Ausprägungen sind ganz unterschiedlich, so dass wir von Autismus-Spektrum-Störungen sprechen.“ Diagnostiziert wird die Störung heute meist im Kleinkindalter, aber schon bei Babys sind die Symptome zu erkennen. „Säuglinge mit Autismus fallen durch ihr Schlaf- und Essverhalten auf, verweigern den Körperkontakt. Im Kindergarten wollen sie nicht mit anderen spielen, die Sprachentwicklung ist oft verzögert.“ Eine der Ursachen sei eine Filterschwäche, die bewirkt, dass alle Informationen ungefiltert auf den Betroffenen einprasseln. „Betroffene leben mit einer ständigen Überreizung, das ist besonders in der Schulzeit schwer“, erklärt Sayer. Während es einigen Patienten gelingt, lange Zeit unauffällig „mitzuschwimmen“, führen bestimmte Lebensphasen mit Veränderungen oft zu einer Verstärkung der Symptome. „Dann kommen manchmal auch Erwachsene zu mir und suchen Hilfe, weil der Ehepartner sich seltsam verhält.“ Für Eltern seien oft die Reaktionen des Umfeldes auf ihr Kind sehr belastend. Die Diagnose „Autismus-Spektrum-Störung“ stellt in der Regel der Psychiater, eine Therapie bei Fachleuten wie Anne Sayer übernimmt das Jugend- beziehungsweise das Sozialamt. „Die Heilpädagogik hat nicht die Behinderung, sondern den ganzen Menschen mit seinen Fähigkeiten, Problemen und Ressourcen im Blick. Ich möchte Menschen mit Autismus befähigen, selbstbestimmt und unabhängig zu leben.“ Dafür braucht die Heilpädagogin, die zuletzt sechs Jahre am Autismuszentrum Landau gearbeitet hat, viel Geduld und Einfühlungsvermögen. „Weil auf die Menschen zu viele Informationen einstürzen, klammern sie sich oft an Details – was sich in sehr speziellen Interessen ausdrückt“, erzählt die 55-Jährige. „Über diese Interessen kann ich Kontakt aufnehmen. Das bedeutet aber auch, dass ich mich wirklich für fleischfressende Pflanzen, Flaggen oder Autokennzeichen interessieren muss und eine ganze Menge Hintergrundarbeit leiste“. Zum Beispiel im Internet recherchieren oder Gärtnereien nach fleischfressenden Pflanzen absuchen. Doch gerade das reizt sie an ihrem Beruf: „Ich finde es schön, mich auf die Persönlichkeit jedes einzelnen Menschen einzulassen. Ich will die Unterschiede nicht glattbügeln, sondern jeden in seiner Persönlichkeit –aber sozialverträglich – leben lassen.“ Betroffene und Angehörige können bei Bedarf ein unverbindliches Informationsgespräch mit der Autismusspezialistin vereinbaren. Kontakt hpp-maikammer@posteo.de

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