Neustadt Neustadter Kirchturm: Neue Grenzen 30 Jahre nach Mauerfall

Martin Groß.
Martin Groß. archivfoto: anzi

Morgen ist der 9. November. Ist es nicht unglaublich, dass sich der Fall der Berliner Mauer in diesem Jahr, in diesen Tagen, schon zum 30. Mal jährt? Viele konnten es damals nicht glauben, als sich die Ereignisse überschlugen, als es hieß, die Mauer sei gefallen. Dabei hatten doch so viele darauf gehofft, dass die Teilung Deutschlands bald zu Ende sei.

Ungezählte Hände falteten sich bei den Friedensgebeten und wurden zu einem Baustein der Friedlichen Revolution. Unzählige Füße machten sich auf den Weg der Montagsdemonstrationen hin zur Einheit, hin zum Miteinander.

Angst vor der Zukunft

Wie sieht es heute aus? Wie steht es um die Mauer, um die Mauern? Mauern und Grenzen werden hochgezogen. Die Schotten werden verriegelt, Grenzzäune werden höher und stacheliger. An den Grenzen der Länder unserer Erde und immer mehr auch in unseren Köpfen. Die Grenze, der Riss, die Mauer zwischen den Menschen scheinen immer größer zu werden. Dahinter und davor und auf der Mauer lauert die Angst. Die Angst, das Eigene könnte bedroht sein. Angst vor Fremden. Angst vor dem, „was nicht schon immer so war“ – wenn auch nur gefühlt. Angst vor der Zukunft. Vielleicht auch Angst vor der Vergangenheit.

„Angst essen Seele auf“, Rainer Werner Fassbinder hat es in seinem Melodram aus dem Jahr 1974 wunderbar erschreckend in Szene gesetzt.

Mauer ein biblisches Motiv

Der Zusammenhang zwischen dem Glauben und dem Einstürzen von Mauern ist schon ein biblisches Motiv. Im Brief an die Hebräer im Neuen Testament heißt es: „Aufgrund des Glaubens stürzten die Mauern von Jericho ein – nachdem das Volk Israel sieben Tage lang um sie herumgezogen war.“ Hier wird auf die Geschichte aus dem Alten Testament angespielt, von Posaunen und Geschrei, das die Mauern Jerichos einstürzen ließ. „Joshua fit the battle of Jericho and the walls came tumbling down“, so heißt es auch in dem bekannten Spiritual. Es war ein Hoffnungslied der nach Amerika verschleppten Sklaven im 17. Jahrhundert.

Sieben Tage lang kreisten die Israeliten um die Mauer. So heißt es in der Erzählung. Vielleicht stehen diese sieben Tage für die Angst. Sieben lange Tage kreisen die Israeliten um die Stadt, wägen Möglichkeiten ab, nehmen Strategien ins Auge, begegnen sicherlich auch ihrer Angst.

Ängste nicht länger ignorieren

30 Jahre nach dem Fall der Mauer – es ist an der Zeit, uns einzureihen. Einzureihen in das Volk der Hoffenden, Glaubenden und Nichtaufgebenden. Zeit, um unsere Mauern und Ängste in den Blick zu nehmen und sie nicht länger zu ignorieren. Zeit, um unsere Hände zu falten und uns einzureihen in die Schar derer, die nicht aufhören, das Hoffnungslied zu singen, die mit ihrem Gott an der Überwindung von Mauern festhalten und Stein für Stein abtragen.

Der Autor

Martin Groß, protestantischer Pfarrer in Lambrecht

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