Neustadt Mal frei machen von Druck

„Hast Du Deine Hausaufgaben gemacht?“ In der Schule steht ein zierliches Mädchen vor mir, stemmt die Arme in die Hüften und schaut mich streng an. „Klar“, sage ich, „fünf Seiten habe ich geschrieben und zwei Seiten gerechnet.“ Das Mädchen lächelt. Es genießt dieses Spiel, mal mit dem Lehrer die Rolle zu tauschen. Und ahnt, dass da mehr mitschwingt als ein paar Rechenaufgaben. Wir Menschen sind ständig einem gewissen Leistungsdruck ausgesetzt, fühlen uns beobachtet und bewertet. Der Blick, den das Mädchen mir nun zuwirft, lässt für einen Moment alte Ängste wach werden. „Habe ich alles richtig gemacht? Konnte da jemand Defizite entdecken, die mein Image schädigen?“ Natürlich weiß dieses Schulkind, dass ich ein bisschen geschwindelt habe. Ein Zeitungsbericht fällt mir ein, nach dem ein Mann wildfremde Menschen im Telefonbuch heraussuchte und mit Schockanrufen belästigte. „Morgen kommt alles raus“, sagte er nur. Manche waren so verzweifelt, dass sie sich das Leben nahmen. „Hast Du Deine Hausaugaben gemacht? Hast Du alles im Griff?“ Nein, habe ich nicht. Das Mädchen weiß das, Gott weiß das. Kinder können grausam sein, aber auch sehr gnädig. In den sozialen Medien werden Menschen gnadenlos fertig gemacht. Das Mädchen verzichtet darauf. Es lächelt nur freundlich. Und Gott? Der sagt: „Du darfst so zu mir kommen, wie Du bist. Du darfst aufatmen bei mir und neue Kraft schöpfen für die Aufgaben, die vor Dir liegen.“ Wir Menschen können nicht nur funktionieren. Wir brauchen auch Momente, in denen uns jemand liebevoll anschaut. Es tut gut, mal nicht unter Beobachtung und frei von Leistungsdruck zu sein. Zum Beispiel in den Ferien. Und da sollte es dann auch Zeiten geben, in denen wir getrost das Smartphone abschalten. Kurz vor den Sommerferien kam das Mädchen noch einmal zu mir und sagte mit strahlendem Gesicht: „Ich habe eine gute Nachricht für Dich: Du musst nie mehr Hausaufgaben machen.“ Kann man schöner ausdrücken, was Gnade ist? Der Autor Jochen Keinath, evangelischer Pfarrer der Gemeinden Maikammer, Kirrweiler, St. Martin und Diedesfeld.

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