Neustadt Lambrecht: Turmuhr wird von Hand umgestellt

„Angst habe ich vor keiner Uhr“, sagt der selbst ernannte „Uhr-Ologe“ Mario Martignoni.
»Angst habe ich vor keiner Uhr«, sagt der selbst ernannte »Uhr-Ologe« Mario Martignoni.

Hoch hinaus geht es am Samstagabend für Mario Martignoni in der Dämmerung, wenn er die Turmuhr der protestantischen Kirche in Lambrecht eine Stunde zurück auf die Winterzeit umstellt. Eine staubige Angelegenheit, die der „Herr der Uhren“ aber leidenschaftlich gerne übernimmt.

„Die alte Dame kann sehr launisch sein“, sagt Mario Martignoni, der sich mit seiner Frau Beatrix 2015 in Lambrecht niedergelassen hat, über die Turmuhr der protestantischen Kirche. Wenn der Chronometer nicht richtig funktioniert, ist es Zeit für Martignoni, den Turm zu besteigen. Samstagabend muss er wieder ran, wenn die Uhren um eine Stunde zurück auf die Winterzeit gestellt werden. Vielleicht sogar zum letzten Mal, sollte die Zeitumstellung abgeschafft werden. Bei Funkuhren funktioniert der Wechsel automatisch, bei mechanischen muss man selbst Hand anlegen. So eben auch bei der alten Turmuhr der ehemaligen Klosterkirche in Lambrecht.

Ein beschwerlicher Weg

Nachdem der gebürtige Schweizer die freistehende Wendeltreppe bei der Orgelempore erklommen hat, geht es noch eine Holzstiege hinauf, bis er zum alten Räderwerk der Uhr gelangt. In einem großen, mannshohen Kasten, mit Flügeltüren vor dem allgegenwärtigen Staub geschützt, drehen sich die vielen, ineinander greifenden Räder. Seile ziehen sich von hier aus hoch zur Uhr und den Glocken, es rasselt jede Minute laut vernehmlich im Werk, wenn der schwere Zeiger oben wieder ein Stück weiter gezogen wird. Einkerbungen in den beiden vorderen Rädern sorgen beim Einrasten für den Schlag zur Viertelstunde beziehungsweise für den Stundenschlag der Glocken. Elektronisch gesteuert sind nur die großen Gewichte, die automatisch immer wieder hochgezogen werden. Alles andere läuft mechanisch. „Wenn die Uhr vorgeht, dann halte ich das Pendel einfach an“, erklärt Martignoni.

Holzpendel ist wetterfühlig 

Im Hochsommer steigt er einmal wöchentlich auf den Turm, um die Uhr zu regulieren, in der Übergangszeit häufiger. „Das liegt daran, dass es nachts kälter und feuchter ist. Das Holzpendel wird schwerer und bewegt sich schneller“, erklärt er. „Tagsüber ist es nicht so warm, um das Tempo wieder auszugleichen.“ Bereits Samstagabend stellt Martignoni die alte Dame auf Winterzeit um, lässt das Pendel eine Stunde lang ruhen. Das tut er, solange es noch etwas hell ist. Denn mitten in der Nacht den dunklen Turm zu besteigen, ist nicht ratsam. „Dann wundern sich die Leute, wenn sie um 10.30 Uhr den Sonntagsgottesdienst besuchen, dass die Turmuhr schon richtig geht“, weiß der Uhrenexperte aus Erfahrung. Die Turmuhr ist nicht der einzige Zeitmesser, den Martignoni auf die Reihe bringen muss. Sein Lambrechter Anwesen in der Wiesenstraße beherbergt eine „Uhr-Ologische Praxis“, wie der „Herr der Uhren“ selbige benannt hat. Die Sammelleidenschaft von Beatrix und Mario Martignoni zeigt sich bereits im Hof. Dreschflegel und Steinguttöpfe, alte Küchengeräte und Richtungstafeln von Eisenbahnen, mittendrin Konterfeis von Bayernkönig Ludwig II. zieren den Anbau und die überdachte Terrasse. Drinnen befinden sich Baustofflager für Restaurationen aller Art sowie ein mit alten Möbeln und vielen Accessoires eingerichtetes Bauernzimmer. Überdies frönt die Hausherrin der Leidenschaft des Puppensammelns, die mit alten Kaufläden und Puppenstuben in einem separaten Raum des Hauses zu bestaunen ist.

Ein großer Sammler

Das Erdgeschoss des Haupthauses betritt man durch einen großen Wintergarten, und hier schon bannen den Blick erste Wanduhren, alte Kleinodien aus dem süddeutschen Raum. Dass da noch viel mehr ist, verrät das emsige Ticken und der Stundenschlag aus mehreren Zimmern. Uhrenkästen reihen sich nebeneinander, an einer Wand Kuckucksuhren, in Schubladen Taschenuhren und Armbanduhren unterschiedlicher Epochen. Herzstück ist die Werkstatt des Meisters, in der er unzählige Ersatzteile – von Zahnrädchen und Unruh-Spirale-Schwingsystem bis Zifferblätter, darunter Kostbarkeiten aus Porzellan – thematisch sortiert aufbewahrt. 1700 Uhren jeglicher Größe und Funktion zählt der Fundus: „Die meisten davon sind wieder funktionstauglich. Zum Reparieren verwende ich Teile kaputter Uhren.“ Martignoni hat das Uhrmacherhandwerk nicht erlernt, sondern sich alles selbst angeeignet. Manche Techniken schaute er bei Restauratoren ab, für die er nur um des Wissen wegen unentgeltlich arbeitete. „Ich sammle alles, was tickt oder was ich wieder zum Ticken bringen kann. Angst habe ich vor keiner Uhr. Ich gehe zum Reparieren in meine Werkstatt, hier kann ich mich entspannen“, betont der Autodidakt und erläutert alte Originalwerkzeuge und erstaunlich winzige Materialien, derer er sich bedient. Seine Motivation beschreibt er so: „Es ist mir wichtig, etwas für die Nachwelt zu erhalten, damit alte Künste und Verfahrenstechniken nicht verschwinden.“ Und: „Es ist spannend, wenn ich eine Uhr, die vielleicht 100 Jahre nicht mehr getickt hat, zum Laufen bringen kann.“ Im Arbeitsraum sieht man hinter Glas und auf Regalen Wecker aller Art. „Das sind mein Lieblinge“, meint der Tüftler und erläutert mit Stolz den kleinsten mechanischen Wecker der Welt.

50 Uhren dauerhaft in Betrieb

Von all seinen Uhren sind etwa 50 dauerhaft in Betrieb. „Die Zeitumstellung ist bei meinen Pendeluhren einfach, sie werden eine Stunde lang angehalten. Bei den anderen muss manuell zurückgedreht werden. Eine davon vergesse ich meistens.“ Martignoni ist kein Freund der Zeitumstellung: „Der Wechsel ist nicht gut für die Natur und für den Organismus. Wir können unser Leben doch nicht an Anforderungen der Wirtschaft ausrichten, und überdies sind die Einsparnisse kaum nennenswert, der Energieeffekt ist umstritten.“ Deshalb solle die Sommerzeit abgeschafft werden, damit der biologische Rhythmus nicht gestört werde.

x