Neustadt Humorvoll, aber deshalb nicht harmlos

«Neustadt». Vermutlich ist Annemarie Selinkos 1940 erschienener Roman „Heute heiratet mein Mann“ durch zwei mehr oder weniger banale Verfilmungen (1956/2006) länger im Gedächtnis geblieben als durch sich selbst. Umso erfreulicher ist es, dass der Wiener Milena-Verlag die bezaubernde Geschichte der nach Dänemark emigrierten Wiener Modezeichnerin Thesi jetzt wieder aus der Versenkung geholt hat.

Die Lektüre lohnt sich und erinnert nur entfernt an die gleichnamigen Streifen, die aus dem Plot, dass zwei Menschen sich zweimal heiraten, mit Fleiß nur das Komödiantische herausfilterten. Ganz abgesehen davon, dass das Nachwort der Literaturwissenschaftlerin Evelyne Polt-Heinzl die Verfasserin des Weltbestellers „Desirée“ auch biografisch aus dem Niemandsland reißt. Ausgerechnet auf dem Zahnarztstuhl erfährt Thesi, die eigentlich Maria Theresia heißt und eine jüdische Offizierstochter ist, dass sich ihr Ex-Mann Sven Poulsen, Stararchitekt in Kopenhagen, frisch verliebt hat und dabei ist, sich zu verloben. Während der Arzt lustvoll bohrt, stößt er die sich gerade vom Scheidungsschmerz langsam erholende Thesi in eine Existenzkrise, die sie selbst überrascht. Hat sie sich doch mit ihrem Leben als freischaffende Künstlerin weitgehend arrangiert, flirtet mit Kaufhausbesitzern und Inhabern von Modefirmen, denen sie ihre Entwürfe verkaufen will. Geht tanzen, bekämpft konsequent ihre Einsamkeit. Dass Europa praktisch vor einem neuen Weltkrieg steht, blendet sie aus. Solange wenigstens, bis sie in einem Café zwei junge Männer kennenlernt, einen englischen Adligen, der gerade vom spanischen Bürgerkrieg zurückgekommen ist, und John, einen amerikanischen Kriegsberichterstatter, der sie unbedingt heiraten will. Thesi ist nicht abgeneigt, weil John sie auf so angenehme Weise von Sven, ihrem Verflossenen, ablenkt. Und die Vorstellung, auf diese Weise dem europäischen Tohuwabohu in die USA zu entkommen, Sehnsüchte in ihr freimacht. Natürlich funktioniert die Story mit dem zweimal Heiraten gut, zumal, wenn man sie – wie Kurt Hoffmann – zehn Jahre nach Kriegsende mit der hinreißenden Lilo Pulver verfilmt. In der literarischen Wirklichkeit aber ist es beileibe nicht so, dass Selinko die historische Katastrophe außen vorlässt: die deutschen Besatzer also, die im Verlauf der Handlung in Kopenhagen einmarschieren, die Geheime Staatspolizei, die sich plötzlich nach den Aktivitäten ihres Ex-Ehemanns erkundigt, der ihr eigentlich eher unsympathische Zahnarzt, der vor den Nazis flüchten muss. Gut, Thesi ist lebenslustig und leichtsinnig, sie hat aber auch ein schlechtes Gewissen, wenn sie an ihre in Wien zurückgebliebene Großmutter denkt. Und sie kann sich – dies vor allem – an das Elend des letzten Kriegs erinnern. Vor allem Gary, der gemütskranke Lord Mounteroy, macht auf sie Eindruck. Der besitzt zwar ein Schloss und ist reich, aber auch gequält von schlechten Träumen und so absolut entsetzt über den Zustand der Welt, dass er sich am liebsten umbringen würde. Die Katharsis tritt ein, als Thesi an Scharlach erkrankt, sie kommt wochenlang in Quarantäne, gepflegt von einer Nonne aus Tirol, die für sie betet, aber nicht bekehren will. Währenddessen die Weltgeschichte weiter läuft und dann auch wirklich ein zweites Mal geheiratet wird, Selinko bleibt ihren Lesern das Happy End nicht schuldig. Tatsächlich aber ist „Heute heiratet mein Mann“ genauso wenig nur ein Unterhaltungsroman wie „Desirée“, die spannende Lebensgeschichte der Seidenhändlertochter aus Lyon, mit deren Hilfe man auf hochintelligente Weise das napoleonische Zeitalter kennenlernen kann. Selinko, geboren 1914, schloss sich der dänischen Widerstandsbewegung an und flüchtete mit ihrem Mann, einem dänischen Diplomaten, auf einem offenen Fischerboot nach Schweden, arbeitete dort bei einer Nachrichtenagentur und starb 1972 in Dänemark. Sie schrieb im Stil der Neuen Sachlichkeit und war nicht weniger ironisch, beherzt und schwungvoll als ihre großen, heute bekannteren Kolleginnen Irmgard Keun, Vicki Baum oder Mascha Kaleko. Lesezeichen Annemarie Selinko: Heute heiratet mein Mann. Roman. Nachwort von Evelyne Polt-Heinzl. Milena-Verlag, gebunden, 221 Seiten, 23 Euro.

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