Neustadt Die Euphorie des Aufbruchs elektrisiert

Der Tag, an dem der „Prager Frühling“ starb: ein sowjetischer Panzer und tschechische Demonstranten am 21. August 1968 vor dem R
Der Tag, an dem der »Prager Frühling« starb: ein sowjetischer Panzer und tschechische Demonstranten am 21. August 1968 vor dem Rundfunkgebäude in Prag, wo es wenig später zu einem Massaker mit 17 Toten kam.

«Neustadt/Prag.»Wir trauten unseren Augen nicht: Die Aufnahmen, die uns da am Abend des 21. August 1968 von der häuslichen Mattscheibe entgegenpeitschten, schienen einem Kriegsszenario zu entstammen: In den frühen Morgenstunden hatten an diesem Tag sowjetische Panzer im Verbund mit den „Bruderstaaten“ Bulgarien, Ungarn und Polen das zarte Pflänzchen des demokratischen Aufbruchs in der CSSR plattgewalzt. Der „Prager Frühlings“ war Geschichte. Vier Wochen zuvor hatten wir – die Teilnehmer einer viertägigen Konzertreise in die Tschechoslowakei – ihn noch gespürt: den Duft der Freiheit.

Es war die erste Konzertreise der „Evangelischen Jugendkantorei der Pfalz“ überhaupt in ein Ostblock-Land – noch unter ihrem Gründer, Landeskirchenmusikdirektor Adolf Graf –, mühsam und mit viel diplomatischem Einsatz seitens des federführenden Speyerer Kirchenamtsmanns Walter Sohn auf den Weg gebracht. Bei den Gastgebern wiederum war sie vor allem dem Einsatz der „Mährischen Madrigalisten“ – bis heute einer der führenden Kammerchöre des Landes – und ihrem damaligen Leiter Jiri Šafarik zu danken. Unser Reisebus mit rund 60 Teilnehmern, darunter auch viele aus Neustadt wie Ulrich Loschky, später langjähriger Leiter der Stiftskantorei, Lutz Wiedmann. Presbyter der Stiftskirchengemeinde, oder das Ehepaar Uta und Karlheinz Metz aus Gimmeldingen – passiert am 26. Juli 1968 die österreichisch-tschechoslowakische Grenze bei Bratislava, dessen von alten Donaumonarchie-Zeiten kündender Charme fast vergessen lässt, dass man sich bereits „im Osten“ befindet. Aber das ändert sich rasch. Schon wenige Kilometer weiter nördlich werden die Straßen schmal, teils ungepflastert, die Felder zusehends karg, die graugelben Dörfer muten an wie aus der Zeit gefallen. Nach drei Stunden Fahrt das erste Ziel: die ostmährische Stadt Kromeríž – berühmt vor allem durch ihre sagenhafte Schlossanlage, in der knapp 25 Jahre später der Hollywood-Tscheche Miloš Forman die Salzburger Szenen seines oscar-prämierten „Amadeus“-Films drehen würde. Sie ist auch der Sitz unserer Gastgeber, der „Mährischen Madrigalisten“, die uns überaus herzlich empfangen. Unser erstes Konzert indes findet am folgenden Tag im rund 60 Kilometer entfernten Olomouc (Olmütz) statt. In der evangelischen Kirche, die eine der bedeutendsten Stumm-Orgeln überhaupt beherbergt, herrscht drangvolle Enge, die Kirchentüren stehen offen, viele Menschen lauschen vom Vorplatz aus den Motetten von Johann Sebastian Bach. Wir beginnen mit Verspätung. Der Grund: unser Organist war mit seinem Auto von russischen Panzern, die zu diesem Zeitpunkt regelmäßig, aber nur vereinzelt im Landesinneren patrouillierten, aufgehalten worden. Ein Zwischenfall, der uns erstmals die ernste politische Situation unseres Gastlandes vor Augen führte. Aber wie rasch ist die Besorgnis wieder verflogen. Denn noch ist alles ruhig. In der folgenden Nacht sind wir über Privatquartiere im Umland verstreut. Eine elementare Erfahrung für im Wirtschaftwunder aufgewachsene Westler wie mich, heute in Kirrweiler, damals aber noch in Zweibrücken zu Hause. „Mein“ Ehepaar, um die 60 Jahre, lebt von seiner bescheidenen Landwirtschaft in einem spartanisch ausgestatteten kleinen Hof ohne elektrisches Licht und mit Badewanne draußen neben dem Brunnen. Als ich meine „Mitbringsel“ auspacke – Seidenstrümpfe, Schokolade, Tabak, Kaffee – wehren sich die beiden zunächst, halten mir Geldscheine hin. Angesichts dessen, was sie an Köstlichkeiten für mich auftischen, fühle ich mich tief beschämt. Am folgenden Morgen gelingt es mir immerhin, unauffällig einen 50-Kronen-Schein unter dem Frühstücksteller zu platzieren. Nach dem deutsch-tschechischen Gottesdienst in Olomouc verabschieden wir uns aufs Herzlichste von unseren Quartiergebern. Die nächste Station heißt Miroslav, eine kleine evangelische Diaspora-Gemeinde nahe Brno (Brünn). Auch hier ist die Begrüßung herzlich, die Verständigung anders als zuvor in Olomouc problemlos, da ein Großteil der Bevölkerung Deutsch spricht. Und auch hier reicht das Platz-Angebot in der ziemlich großen Barockkirche nicht, strömt das Publikum in Scharen, um die „Exoten“ aus dem Westen zu erleben. Was sich nach dem Konzert abspielt, ist schwer in Worte zu fassen. Die Menschen ergreifen unsere Hände, schleppen Obst herbei, entschuldigen sich für ihre „kümmerlichen“ Gaben, wollen, dass wir wieder singen. Als Ulrich Loschky, einer unserer Tenöre, vorsichtig seine Verwunderung über die unbeschreibliche Herzlichkeit gerade einem deutschen Chor gegenüber äußert, krempelt ein alter Mann seinen Ärmel hoch, zeigt ihm seine Lagernummer und sagt schlicht und in gebrochenem Deutsch: „Was Auschwitz hat mich gelernt – nur Freundlichkeit kann Menschheit retten.“ Aber wir müssen weiter, noch in der Nacht, Richtung Prag. Da sind wir in der internationalen Jugendherberge hoch über der Moldau-Metropole untergebracht. Und die „Goldene Stadt“ bereitet uns an den beiden folgenden Tagen ihren ganz eigenen Empfang. Es ist sommerlich warm, Hradschin, Karlsbrücke, die gotische Teynkirche funkeln im Sonnenlicht, das Leben und Treiben im Zentrum unterscheidet sich kaum vom Umtrieb einer x-beliebigen Großstadt. Was die Auslagen der Warenhäuser angeht indes, rümpft sich das Westnäschen. Und prompt werden wir – offenkundig als von jenseits des Eisernen Vorhangs verortet – auch immer wieder angesprochen; ob wir denn nicht unsere weißen Nyltest-Hemden verkaufen, ob wir nicht West-Devisen eintauschen wollten. Und vor allem, ob wir diskutieren wollen. Die Stadt scheint von kommunizierfreudigen Beamten, Angestellten, Hausfrauen mit Kindern im Schlepptau, Studenten, von viel Jugend jedenfalls geradezu überflutet. Und wenn gegen fünf Uhr die frühen Abendzeitungen an den Kiosken bereitliegen, setzt ein wahrer Ansturm ein. Im Nu sind die vergriffen, bilden sich Grüppchen, wird gelesen, debattiert, gestritten. Wir, die jungen Westler, werden mitgerissen, teils beschämt durch die eigene politische Unbedarftheit inmitten dieser offensichtlich hochpolitisierten und von Aufbruchseuphorie elektrisierten tschechoslowakischen Jugendlichen. Die legen eine erstaunliche Ausdauer an den Tag. Fragen uns aus über Schul- und Studentenbeiräte, über Streikrecht und schneidige Kommentare in der Tagespresse. Sie wollen Adressen und Telefonnummern tauschen. Wenn alles zu einem guten Ende komme, ein bisschen Marktwirtschaft, noch ein bisschen mehr von der schon aufkeimenden Meinungsfreiheit, dann brauche man schließlich Partner im Westen. Am 30. Juli reisen wir über Österreich nach Hause – mit einem ungeheuer schwergewichtigen menschlichen Erfahrungsschatz im Gepäck. Und dem festen Vorsatz, gleich im nächsten Jahr wiederzukommen … Wir kamen tatsächlich wieder. Trotz der politischen Erstarrung, die sich nach der Invasion wie Mehltau über das Land legte. Die Briefwechsel und diplomatischen Klimmzüge im Vorfeld der neuerlichen Reise der Jugendkantorei 1969 füllen noch heute einen ganzen Aktenordner im Zentralarchiv der Landeskirche in Speyer. Aber ungeachtet der russischen Intervention zur Beendigung des „Tauwetters“ sollte nach dem Willen der Prager Regierung wenigstens der Kulturaustausch nicht ganz ersterben. Und so reisten auch die „Mährischen Madrigalisten“ 1969 zum Gegenbesuch in die Pfalz und lieferte umjubelte Konzerte ab – unter anderem in Kaiserslautern und Neustadt. Die „Evangelische Jugendkantorei der Pfalz“ wiederum war im selben Jahr mit Bachs h-Moll-Messe, die noch nie zuvor im Land an der Moldau erklungen war, im Schloss zu Kromeríž und in der Prager Nikolauskirche zu Gast. Vier Monate, nachdem der Hoffnungsträger des „Prager Frühlings“, Alexander Dubcek, endgültig hatte abdanken müssen. Jiri Šafarik, der Chorleiter der „Mährischen Madrigalisten“, hatte da bereits seinen Job als Hochschullehrer und Leiter einer der angesehensten Musikbibliotheken des Landes verloren – und arbeitete fortan in einem städtischen Wasserwerk. Politik

Von der Chorreise 1968 gibt es kaum Bilder im Archiv der Landeskirche. Dieses entstand im Folgejahr beim Konzert der „Evangelisc
Von der Chorreise 1968 gibt es kaum Bilder im Archiv der Landeskirche. Dieses entstand im Folgejahr beim Konzert der »Evangelischen Jugendkantorei der Pfalz« in der Prager St. Nikolauskirche – als der »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« längst Geschichte war.
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