Neustadt Bitte lasst das Singen sein!

Christian Stock alias Jack Savant trug bei der Premiere seine Alan-Ginsberg-Hommage „Mein kleines Bohème-Viertel“ vor.
Christian Stock alias Jack Savant trug bei der Premiere seine Alan-Ginsberg-Hommage »Mein kleines Bohème-Viertel« vor.

«Neustadt-Mussbach.» Literarische Perlen, aber auch Beiträge zum Fremdschämen – die Bandbreite dessen, was am Donnerstag bei der ersten „Offenen Lesebühne“ in der Parkvilla des Herrenhofs geboten wurde, war erwartungsgemäß riesengroß. Damit hat jetzt auch Neustadt endlich ein Forum für diese Art von Graswurzelliteratur, wo jede und jeder ohne Hemmschwelle vorlesen kann, was sie/er am heimischen Schreibtisch so fabriziert hat – auch wenn man sich als Zuhörer eine zumindest minimale Hemmschwelle doch gewünscht hätte.

Insgesamt vier Autoren und zwei Autorinnen wagten sich an diesem Abend auf die Bühne – alle mit ganz unterschiedlichem biografischem Hintergrund und einer erkennbar mindestens genauso großen Spannbreite, was die Formen, die literarischen Vorbilder anbelangt – und natürlich auch das literarische Talent. Zwei davon, die Neustadter Heribert Hansen und Ricco Sprengart, traten auch musikalisch auf, wobei sich allerdings ganz schnell die Frage aufdrängte, warum bloß. Denn sowohl Hansens Gesänge zu Ukulele- und Shrutibox-Geschrammel als auch Sprengarts in Dreiviertelplayback vorgetragener Rap waren Beiträge, die man nicht unbedingt hätte haben müssen. Dabei können beide als Autoren durchaus etwas vorweisen, wie sie in der Parkvilla ebenfalls belegten: Hansen mit seinem Gedicht „Altrosa“, bei dem die Begegnung mit einer alten Frau in einem Neustadter Park für das lyrische Ich den Ausgangspunkt eines weiten Gedankenfluges bildet, der schließlich bei einer geliebten Frau endet, Sprengart mit einer witzigen Kurzgeschichte, die von einem Ich-Erzähler und seiner nicht ganz spannungs- und gewaltfreien Beziehung zu einem gewissen Dave handelt, wobei sich erst im letzten Satz herausstellt, dass dieses Ich nicht anderes als Daves Kugelschreiber ist. Während die beiden Neustadter in der hiesigen Szene schon verschiedentlich in Erscheinung getreten sind, war der Auftritt für Siegrun Schütz, pensionierte Lehrerin aus Lambsheim und Mitglied der Gruppe „Schreibende Frauen“ in Eisenberg, eine Premiere beim „Literaturvilla“-Netzwerk. Sie stellte ihre Erzählung „Mensch, hab ich ein Glück vor“, die gänzlich ironiefreie Schilderung einer Zugfahrt von Frankenthal nach Grünstadt aus der Perspektive einer älteren Dame, die in ihrer Betulichkeit, aber auch angesichts ihrer anachronistischen Geschlechterstereotypen gerade schmerzte. Der Gipfel war erreicht, als die Autorin auch noch eine Abwandlung der Schlagerschmonzette „Du hast Glück bei den Frau`n, Bel Ami!“ anstimmte, die in der Erzählung eine Rolle spielt. Wenn man vielleicht eine Lehre aus diesem Abend ziehen kann, ist es die: Wenn die Autorin/der Autor anfängt zu singen, dann sollte man gehen. Das Publikum applaudierte trotzdem freundlich. Man ist ja schließlich nicht beim Bachmann-Preis in Klagenfurt oder bei der „Gruppe 47“. Den denkbar härtesten Kontrast (so auch die eigene Ankündigung) bot danach Jack Savant, mit bürgerlichem Namen Christian Stock und derzeit in Haßloch zwischengelandet, der „Mein kleines Bohème-Viertel“ vortrug, eine als Hommage an Alan Ginsberg, den Dichter der Beat-Generation, angekündigte, rauschhaft-rasante Ansprache voller Ekel, Hass und Wut, bei der kein Substantiv ohne mindestens ein Adjektiv auskommt und man am Ende eigentlich nur verstanden hat, dass dem erzählenden Ich Wissenschaftsbetrieb und Künstlerszene ganz ordentlich auf den Sack gehen. Dass das Ganze mit einer ziemlich selbstgefälligen Attitüde vorgetragen wurde, kann man dazu als schauspielerische Glanzleistung einschätzen oder einfach nur ätzend finden. Danach erneut ein großer Kontrast: Mai Rim, geboren 1983 in Rastatt, aber inzwischen in der Südpfalz lebend, trug zwei Passagen aus ihrem 2018 bei „Amazon“ veröffentlichten Debütroman „Henrietta und Toni“ vor, die von großem Witz und Treffsicherheit in der Beschreibung skurriler Szenen zeugten. Der Topos von der besten Freundin, die Chaos in ein wohlgeordneten Frauenleben bringt, ist nun zwar nicht gänzlich neu, aber zumindest die beiden vorgetragenen Auszüge, in denen es um die erste Begegnung im Kindergarten und ein von Liebeskummer bestimmtes Krisentreffen 30 Jahre später ging, wirkten erfrischend, locker, leicht und flockig. Den reifsten literarischen Beitrag des Abend steuerte dann Pablo Riera, geboren 1971 in Speyer und Mitbegründer des Literaturvereins „Dichter-Zusammen“ in Schifferstadt, bei. Er stellte den philosophisch grundierten Essay „Die Büchse der Pandora“ vor, der von den Sorgen und Verletzungen handelt, die man im Laufe des Lebens in seinem Inneren „verkapselt“ – „die Büchse, die jeder in seinem Herzen trägt“, wie es am Schluss heißt, sowie eine aphoristische Gedicht-Trilogie zu den Themen Macht, Geld und Zeit. Beides waren Werke, die sowohl durch sprachliche Versiertheit als auch durch gedankliche Tiefe beeindruckten – und die eigentlich einen versöhnlichen Abschluss des Abends hätten bilden können, wenn, ja wenn es danach nicht noch mal Gesang gegeben hätte. Der Programmverantwortliche Frederik Mork sprach trotzdem von einem guten Start für die neue Lesebühne-Reihe – und irgendwie hatte er damit ja zumindest teilweise auch recht. Termin Die nächste „Offene Lesebühne“ in der Reihe der „Literaturvilla“-Lesungen findet am Donnerstag, 4. Juli, um 20 Uhr in der Parkvilla des Mußbacher Herrenhofs statt. Interessierte Autorinnen und Autoren können sich per Mail anmelden (mit Angaben des Namens sowie Informationen zu Person und Text) unter offenelesebuehne@literaturvilla.de. Ins Programm aufgenommen werden nur fiktive Texte oder Auszüge, die sich in einem Zeitfenster von 7 bis 10 Minuten vortragen lassen.

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