Ludwigshafen „Man weint nicht mit den Akten“

Zum Abschluss der Festwoche Türkei hat Esther Dischereit Auszüge aus ihrem Gedichtzyklus „Blumen für Otello“ gelesen. Die Texte setzen sich mit der Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) auseinander. Neun ausländische Mitbürger kamen dabei ums Leben, jetzt soll daraus eine Oper werden.

Es dauert immer eine Weile, bis ein bedeutsames Ereignis bei den Künstlern ankommt und sie zu Auseinandersetzungen provoziert. Das war bei den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York so, das ist auch jetzt so, in einem beschränkteren nationalen Rahmen, bei dem Skandal um die NSU-Mordserie, das Verhalten der Polizei und den Umgang des Staates und der Verfassungsschutzbehörden mit den rechtsradikalen Gewalttaten. Am Samstag wurde in Karlsruhe das Stück „Rechtsmaterial“ von Konstantin Küspert uraufgeführt. Es verschränkt die NSU-Morde an neun Ausländern – überwiegend Türken – und einer deutschen Polizistin mit dem nationalsozialistischen Propagandastück „Schlageter“ aus der Zeit der Weimarer Republik. Und in Ludwigshafen las nun die Dichterin Esther Dischereit aus ihrem auf eine Vertonung hin angelegten Werk „Blumen für Otello. Über die Verbrechen von Jena“. Esther Dischereit, 1952 in Heppenheim geboren, hat sich in der Vergangenheit vor allem mit Rassismus und dem Leben von Juden in Deutschland nach der Shoah auseinandergesetzt. Um eine jüdische Frau und die Frage nach der „Normalität“ ging es in ihrem Hörspiel „Rote Schuhe“ von 1993. „Mit Eichmann an der Börse“ war einer ihrer Essays betitelt. Dabei arbeitete die Lyrikerin eng mit Musikern wie dem Komponisten und Experimentalmusiker Ray Kaczynski zusammen. Nachdem die NSU-Mordserie bekannt geworden war, verfolgte sie als Zuhörerin die Sitzungen des Untersuchungsausschusses des Bundestages und teilweise auch das Verfahren vor dem Münchener Oberlandesgericht. Aus ihren Recherchen und ihrem Engagement für die Hinterbliebenen hervorgegangen ist nun „Blumen für Otello“. Mit ihrer Dichtung wolle sie den Opfern eine Stimme geben, wie Esther Dischereit bei ihrem Auftritt im Theater im Pfalzbau sagte. Man habe nach der Aufdeckung der Taten sehr viel von den Tätern gehört, die Familien der Opfer hingegen seien schnell hinter dem Interesse an den Tätern verschwunden. „Man weint nicht mit den Akten“, sagte die Schriftstellerin. Dichtung habe im Unterschied zu Antifa-Zentren, engagierten Rechtsanwälten und unerschrockenen Journalisten, die bei ihren Recherchen auf eine Mauer des Schweigens seitens der Behörden stoßen würden, auch den Vorteil, dass sie nicht auf Akten als Beweismittel angewiesen sei. Ihrem eigentlichen Libretto mit dem Titel „Blumen für Otello“ vorangestellt sind Klagelieder auf die Toten, die Esther Dischereit vollständig auf Deutsch und nicht ohne eine gewisse Larmoyanz vortrug. Ípek Ípekçioğlu las die türkische Übersetzung und untermalte den Gedichtvortrag mit Geräuschen wie Vogelgezwitscher, Kinderlachen und Musik. Aus dem Operntext selbst lasen die beiden einen fiktiven Dialog der Shakespeare-Figur Otello, des aus Eifersucht seine unschuldige Frau tötenden dunkelhäutigen Generals, mit dem vom NSU erschossenen Blumenhändler Enver. Die Klagelieder in ihrer Allgemeinheit („Eine Frau spricht mit ihrem toten Mann“) lassen einen Bezug auf die Opfer des NSU für den nicht Eingeweihten allerdings kaum erkennen. Und das Duett setzt viele Kenntnisse, literarische und solche der Tatumstände und der Familienverhältnisse des Opfers, voraus. Insgesamt ist „Blumen für Otello“ mehr Trauergesang als aggressive Anklage. Wegen der Vertonung ist Esther Dischereit nach eigener Aussage mit mehreren Komponisten im Gespräch. Mit der Uraufführung rechnet sie für die Spielzeit 2015/16.

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