Ludwigshafen „Möchte das nie mehr erleben“
In den Supermärkten an der Edigheimer- und der Kurt-Schumacher-Straße herrscht der übliche Betrieb. Auf der Baustelle an der Straße wird kräftig gearbeitet. Eine Ecke weiter fährt der Linienbus seine Umleitungsstrecke. Auf den ersten Blick wirkt das alles normal, denn auch an Großbaustellen und die gesperrte Hauptverkehrsstraße sind die Oppauer und Edigheimer in den vergangenen beiden Jahren gewöhnt. Wären da nicht die zerschmolzenen Ladenschilder auf breiter Front, die zahllosen gesprungenen Fensterscheiben, die grotesk verformten Rollläden und angekokelten Bäume und Sträucher ringsum. Auf dem Parkplatz des Lidl-Markts stehen noch immer zwei Autos mit verschmurgelten Karosserieteilen. Von den brandgeschwärzten Hausfassaden entlang der Jakob-Scheller-Straße ist fast nichts zu sehen – sie sind hinter Baugerüsten und Planen verborgen. Neben Bauarbeitern und Anwohnern zählen auch Geschäftsleute und Ärzte zu den Betroffenen. „Viergeteilt“ – so bezeichnet Klaus Becker die Stimmung. Der Betreiber des „Kerwestübels“, dem Kiosk an der Edigheimer Straße, steht am offenen Verkaufsfenster und blickt direkt auf den Unglücksort. Viergeteilt? „Erstens gut, weil der Schock langsam abklingt. Zweitens sehr gut, weil wir alle noch einen Haufen Glück hatten. Drittens schlecht wegen der Schäden und weil das Geschäft zusammengebrochen ist.“ Schon wieder ist die Hauptdurchgangsstraße gesperrt, nach zwei Jahren Baustelle. Beckers Laufkundschaft bleibt aus, klagt er, während er einem Stammkunden in Arbeitskleidung die gewünschten Zigaretten über den Tresen reicht. Und viertens? „Naja, die Rennerei mit den Versicherungen.“ „Die Reise nach Jerusalem“ nennt das Viktor Gossmann mit Galgenhumor, „wer am Ende keinen Stuhl bekommt, muss zahlen“. Der Augenarzt hat seine Praxisräume im Gebäude über dem Kiosk. Sämtliche Fenster müssen ausgetauscht werden. Die örtlichen Handwerker haben jetzt alle Hände voll zu tun, schließlich steht der Winter vor der Tür. Am Eingang weist das verschmorte Schild nur noch ansatzweise auf Gossmanns Praxis hin. „Die Leute sind unter Schock, vor allem die Älteren“, hat er beobachtet. Nur langsam lege sich das. Er selbst hat ebenso wie Becker das Unglück hautnah miterlebt. „Gott sei Dank war Mittagspause, es waren keine Patienten mehr da.“ Gossmann flüchtete durch die Tiefgarage zur rückwärtigen Einfahrt. Becker schickte seine Kunden zunächst nach hinten ins Lager. Der Kioskbesitzer beobachtete, wie auf dem Lidl-Parkplatz ein Auto nach dem anderen zu qualmen anfing: „Dann sind wir nur noch die Straße runtergerannt“. Der Schock kam bei ihm erst zwei Tage später, dann ging es ihm sehr schlecht. Noch hinter den Absperrgittern der Unglücksstelle liegt die Schneiderei von Turgul Serpil. Sie werkelt mit ihrer Angestellten zwischen Nähmaschinen und Bügelbrettern, die Kleiderständer und Regale sind voll. „Sehr, sehr ruhig ist es“, sagt sie. Die Leute haben vielleicht Angst, so nah an der Unglücksstelle, vermutet Serpil, die seit 30 Jahren hier ihr Geschäft betreibt. Angst hat auch sie: „Wenn ich morgens her laufe, zittern mir die Knie.“ Auch sie ist um ihr Leben gerannt, weg von den Flammen. Dass der Schaden an ihrem Laden relativ gering ist, verdankt sie wohl dem Schutz durch das größere Nachbargebäude. Nach sechs Tagen konnte sie ihre Schneiderei wieder öffnen. Die Straßenbeleuchtung funktioniert aber noch nicht, erzählt sie. Auf der Edigheimer Seite der Baustelle stellt Norbert Persau einen Werbeständer an den Straßenrand. „Damit man sieht, dass wir noch da sind.“ Er betreibt mit seiner Frau Astrid Large einen großen Imbiss gleich hinter der Bahnlinie. Auch hier sieht man gesprungene Schaufenster und Schäden am Wohnhaus. Wie durch ein Wunder blieb im Imbiss alles heil. Nach einer Woche konnte „der Large“ wieder öffnen, am Montag wird das am stärksten beschädigte Fenster ausgetauscht, erzählt Persau. „Ich möchte sowas nie, nie wieder erleben müssen“, sagt er über den Unglückstag, den 23. Oktober. Es war Mittagszeit, der Laden voll. Durch den Hof und über die Mauer sind die Kunden und Mitarbeiter in Panik auf die angrenzende Siegfriedstraße geflüchtet. Dieses laute Rauschen und die unerträgliche Hitze haben sich allen eingeprägt – „ wenn jetzt irgendwo ein lauter Knall ist, zucken alle zusammen“, berichtet Jens Kahl, Inhaber eines Küchenstudios neben seinem Wohnhaus an der Humboldtstraße. Seiner Frau Antje „flogen die Pergolascheiben um die Ohren“. Der Rasen liegt noch voller Splitter, die Fenster an der Hausrückseite sind kaputt. Die Familie musste wie ihre Nachbarn das Haus in aller Eile verlassen. Kahl hat Zweifel an der bisher genannten Schadenssumme von 2,5 Millionen Euro: „Wir haben alleine einen Schaden von etwa 70.000 Euro. Und es sind doch so viele Häuser und Autos betroffen.“ Den Einsatzkräften gilt „mein großer Respekt“, sagt Kahl, „die haben alles Menschenmögliche getan“, ergänzt seine Frau. Das bekräftigt auch Klaus Becker, der an jenem Donnerstag in seinen Kiosk zurückkehrte und bis in die Nacht „Unmengen Kaffee“ für alle kochte: „Denen müssen wir wirklich Danke sagen.“