Ludwigshafen Kindheit auf dem Binnenschiff

Sie hätte nie gedacht, dass sie mit bald 70 Jahren ein Buch veröffentlichen würde, bekannte Gertrud Winter auf dem Museumsschiff in Mannheim. „Lebet wohl, ihr engen, staub’gen Gassen“ ist die Chronik ihrer Rheinschiffer-Familie. Anfangs nur klein gedacht, ist das Buch unter Mitwirkung ihrer Geschwister immer ausführlicher geworden.

Am 20. Januar 1947 kamen Gertrud und ihre Zwillingsschwester Else in Nierstein zur Welt. Die ältere Schwester Eva war vier Jahre alt; ein Bruder sollte ein Jahr später folgen. Die vom Vater geführte Argo lag festgefroren in ihrem Heimathafen. Philipp Winter entstammte einer alteingesessenen Niersteiner Familie. Als 14-jähriger Volksschulabgänger entschloss er sich 1918, der Not gehorchend, Binnenschiffer zu werden. Während der dreijährigen Lehrzeit musste er Grundkenntnisse in unterschiedlichen Handwerken erwerben, auf mehreren Schiffen anheuern und darüber ein Dienstbuch führen. Die Argo war ein Schleppkahn. Er wurde zusammen mit anderen Schleppkähnen zu einem Gespann zusammengebunden, das von einem Schleppboot gezogen wurde. Philipp befuhr mit unterschiedlicher Fracht den Rhein von Basel bis Rotterdam, manchmal auch Main, Neckar oder Mosel. Es war eine wirtschaftlich meist schwere, selten schöne Zeit, wie im Sommer 1936, als er frisch vermählt mit Anna fuhr. Anschaulich erzählt die Autorin, wie es damals war. Der wirtschaftliche und politische Hintergrund ist in knappen Sätzen eingefügt, authentisch und unbeschönigt. Philipp wurde nicht zur Wehrmacht eingezogen, weil seine Tätigkeit kriegswichtig war. Kurz vor Kriegsende wurden von den Deutschen die Brücken gesprengt und die Schiffe versenkt. Die Argo kam nur davon, weil sie das am weitesten vom Kai gelegene Schiff war und die höheren Schiffe davor sie abschirmten. Sie hatte Maschinen von Opel geladen, die dann von den Amerikanern konfisziert wurden. Gertrud Winters eigene Erinnerung setzt ein, als sie drei Jahre alt war. Vier kleine Kinder auf einem Schiff – wie kann man die davor bewahren, ins Wasser zu fallen! Eva, der Ältesten, war das einmal passiert. Ihre Zwillinge, Gertrud dunkelhaarig, Else blond, band Mutter Anna mit Gurten fest. 1950 war das erste Jahr, in dem die Rheinschifffahrt wieder normal lief, und sie nahm rasant zu. 1951 kaufte Philipp die Argo, 1959 rüstete er sie mit einem Motor und elektrischem Strom aus. Die Zeit der Schleppkähne war vorbei. Gern würde man noch mehr vom Leben auf dem Strom erfahren. Aber für die Familie war es vorbei, als die Älteste eingeschult wurde. In ein Heim für Schifferkinder wollten die Eltern ihre Sprösslinge nicht geben. Die Mutter zog in ihr Heimatdorf Ludwigshöhe; aus den Schifferkindern wurden Landratten, die der Schiffervater nur sporadisch sah. Die besondere Rheinschifferchronik wird so nach dem ersten Fünftel zur gewöhnlichen Familienchronik, in der die Lebenswege in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschildert werden: Schule im Dorf, Lehre auswärts, Stelle in einem feinen Modesalon in Wiesbaden, Stationen in München und Westberlin. Alles ist authentisch und humorvoll erzählt. Die Rheinschifffahrt ist da allerdings weit entfernt. Lesezeichen Gertrud Winter: „Lebet wohl, ihr engen staub’gen Gassen“, www.tredition.de/buchshop und im Buchhandel.

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