Ludwigshafen Hereinspaziert ins Bordell

Eiskalte Diven fordern und verführen in der Disco Zwei – Tala Al-Deen (links) und Nancy Mensah-Offei.
Eiskalte Diven fordern und verführen in der Disco Zwei – Tala Al-Deen (links) und Nancy Mensah-Offei.

„Auch in der afrikanischen Literatur muss gefickt werden“, schreit der Transvestit, der gerade bestiegen wurde. Mit „Tram 83“ inszeniert das Mannheimer Nationaltheater den Roman des Kongolesen Fiston Mwanza Mujila, der es auf die Longlist des Booker-Preises schaffte. Nicht alle Literaturkritiker waren sich einig, wie saftig und wie abgründig Afrika dargestellt werden dürfe. Regisseurin Carina Riedl findet eine Lösung. Dafür lässt sie die Zuschauer in die Tiefen eines Nachtclubs hinabsteigen.

„Was sagt die Uhr?“ Die Anmache, mit der die Prostituierten die Kerle in der kongolesischen Bar Tram 83 anlabern, wird man beim Lesen nicht mehr los. Sie zieht sich wie ein Beat durch den Roman, ohne dass man je erfährt, wer hier spricht. Nur Klang ohne Körper, dabei soll der doch verkauft werden. So wie sich alles in dieser Spelunke am Rande des Bahnhofs ums Anbändeln, Saufen, Schwitzen, Bestechen und Essen von gegrillten Hundespießen dreht. In diesem Moloch, der auf Coltanminen hockt, ist „die Tragödie schon geschrieben. Wir sind nur das Vorwort.“ Und damit sind wir schon im Kern der Debatte, die sich um das sagenhafte Debüt des Kongolesen Fiston Mwanza Mujila entsponnen hat. Eigentlich wird der Roman des Schriftstellers, der 1981 in Lubumbashi geboren wurde und in Graz lebt, in den Feuilletons gepriesen. Aber darunter mischen sich leise kritische Töne und ein lautstarker Kontrapunkt des nigerianischen Bloggers Ikhide Ikheloa, der das Werk als „Armutspornografie“ empfindet, in der Frauen zu Sexobjekten degradiert sind. „Ich dachte, wir hätten die Zeiten überwunden, in denen afrikanische Literatur vor Frauenhass, Hoffnungslosigkeit, Armut, Krieg und Vergewaltigungen überquillt.“ Andere widersprechen: So werde überall in den Kneipen von Accra bis Nairobi gebaggert. Die Debatte entzündet sich daran, wie Afrika dargestellt werden dürfe. Aber ist „Tram 83“ als realistisches Abbild zu verstehen? Natürlich nicht. Was wie eine Milieustudie voller Grubenarbeiter, Ex-Kindersoldaten und Kellnerinnen beginnt, entpuppt sich vom Plot und von den Figuren her als Märchen. Es waren einmal zwei Brüder, die in „Hinterland“ studierten. Doch der eine, Requiem, verroht im Krieg und wird zum Drogendealer in „Stadtland“. Der andere, Lucien, spannt dem Bruder die Frau aus, bleibt als Intellektueller aber seinen Idealen treu. Weil er nicht korrumpierbar ist, muss er zu Requiem fliehen und riskiert sogar das Gefängnis, aus dem er von Feenhand errettet wird. Eine Diva und ein Verleger verhelfen Lucien zum literarischen Durchbruch, und Requiem stürzt den korrupten General mit Hilfe von Nacktfotos. Die ganze Stadt lacht über die mickrige Ausstattung des Generals. Um dieses Handlungsgerüst ranken sich Dialogfetzen, Aufzählungen und ironisch gepfefferte Gedanken in einem Bewusstseinsstrom. Wie Züge rattern die Sätze über die Seiten. Eigentlich wollte Mujila Jazz-Saxofonist werden, stattdessen musiziert er wortgewaltig. Und das schreit nach einer Inszenierung. „Was sagt die Uhr?“ Auch in Mannheim wird geflirtet und gefreit, und dafür müssen die Zuschauer in die graffitibekritzelte Schwärze der Disco Zwei hinabsteigen. Tala Al-Deen im Glitzerfummel haucht die Anmache ins Mikro und klimpert einen Zuschauer lolitamäßig an. Sie wird den Spruch immer wieder maunzen, schnoddern oder eiskalt hinknallen. Die Regisseurin Carina Riedl umschifft Fallstrick Nummer eins: Die zwei Frauen fordern mehr als dass sie verführen. Ihre Sprüche sind mehr Musik in den Ohren als fleischliches Angebot. Und auch die Männer werden – gleichberechtigt – als Transvestiten in Stöckelschuhen und Leopardenbody auf den Strich geschickt, der mit Techno- und Balafon-Klängen ein bisschen nach Lubumbashi klingt. Mit viel Ordnungssinn hat die Regisseurin die Erzählstränge entwirrt und das lautstarke Durcheinander in einem zweistündigen Sprachrausch orchestriert. Mujilas Sätze kommen darin wunderbar zur Geltung, die Zuspitzung ist gelungen und hätte sogar noch stärker ausfallen können. Eine reizvolle Balance aus Nähe und Distanz zum Publikum entsteht durch das Filmen mit der Handkamera. Mal werden die Brusthaare des schmierigen Verlegers (Martin Weigel) herangezoomt. Mal erscheinen die geschürzten Lippen der Sirene (Nancy Mensah-Offei) groß auf der Leinwand. Dann wieder sieht man die Panik in Luciens Blick (Arash Nayebbandi), als Requiem (Eddie Irle) sich mit ihm unter ein Glaspodest zwängt – er lockt ihn in die gefährlichen Minen. Geschickt wird die Disco in die Zeiten des kolonialen Raubbaus zurückversetzt, wenn die Schauspieler wie Zombies mit Tropenhelm und in barocken Kleidungsfetzen durch den Staub staksen. Mit der Kritik am Kolonialismus als Ursache des Elends positioniert sich die Inszenierung deutlich und nimmt damit die nächste Hürde. Auch wenn die eingestreute Botschaft nach dem Motto „Wenn ich kein Afrikaner bin, was dann? Hier ist die Wiege der Menschheit“, etwas zu simpel klingt, überzeugt der universalistische Ansatz: Das multikulturelle und – durchweg irre gute! – Ensemble spricht und singt in verschiedenen Sprachen. Der postkolonialen Hölle und der Gier des globalisierten Kapitalismus kann man eben vielerorts begegnen. Termine „Tram 83“ des Nationaltheaters Mannheim in der Disco Zwei, T6, 14, vom 24. bis 27. Juni, 2. und 12. Juli, jeweils 20 Uhr.

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