Ludwigshafen Eher Traumschiff als Titanic

Der Untergang der Titanic wurde zum Mythos über menschliche Überheblichkeit im technologischen Zeitalter. Er ist ein Stoff für Katastrophenfilme made in Hollywood. Ist er es auch für einen Choreografen? So schön, dekorativ und weitgehend beliebig, wie Frédéric Flamand das Ballet National de Marseille tanzen lässt, fragt man sich, was er damit sagen wollte. Das Gastspiel im Theater im Pfalzbau in Ludwigshafen erinnerte mehr an Traumschiffnostalgie als an eine Jahrhundertkatastrophe.

Das größte, modernste, luxuriöseste und schnellste Passagierschiff der damaligen Welt kollidierte am 14. April 1912 kurz vor Mitternacht mit einem Eisberg und sank in weniger als drei Stunden. Es war seine Jungfernfahrt. 1500 Menschen fanden den Tod im eisigen Nordostatlantik. Der technologische Größenwahn des industriellen Zeitalters erhielt einen nachhaltigen Dämpfer.

Kann man dieses Thema mit den Mitteln des Tanztheaters angehen? Der belgische Choreograf Frédéric Flamand machte 1992 in Charleroi einen ersten Versuch. Er hatte dort im Jahr davor die Leitung des Ballet Royal de Wallonie übernommen. Unter dem neuen Namen Charleroi/Danses führte er es zu internationalem Ruhm. 2004 wurde Flamand Leiter des Ballet de Marseille und baute die unter dem Vorvorgänger Roland Petit klassisch ausgerichtete Compagnie in Richtung zeitgenössischer Tanz um. Zum 100. Jahrestag der Katastrophe nahm er 2012 sein Titanic-Thema wieder auf. Flamand war inzwischen durch die Zusammenarbeit mit Architekten, Designern und bildenden Künstlern hervorgetreten.

Titanic ist der zweite Teil einer Trilogie in Zusammenarbeit mit dem italienischen Bildhauer und Videokünstler Fabrizio Plessi. Das Ludwigshafener Publikum lernte diesen vor Jahren in einer Zusammenarbeit mit Mauro Bigonzetti (Romeo und Julia) und einer zeitgleichen Ausstellung im Hack-Museum kennen. Im Bereich Tanztheater ist Plessi bühnenerfahren. Seine Bauten und Videos geben der Choreografie eine intensive authentische Atmosphäre. Für die Videos hat er auch Originalfotos und rekonstruiertes Bildmaterial wie die besondere Form des Eisbergs verarbeitet. Eine silbrig schimmernde Bühnenwand mit vielen Bullaugen wird zu wechselnden Szenarien verschoben. Umgedreht ist sie ein schwarzer Maschinenraum mit den Feuern der Kessel. In zwei Hälften aufgeteilt, die um 90 Grad gedreht einander gegenüberstehen, verkörpert sie das unter dem Druck des eindringenden Wassers auseinandergebrochene Schiff.

In der eindrücklichen Szenerie gibt es viele Objekte, an denen sich der Tanz entfaltet. Reling und bewegliche Schottenwände werden wie die Ballettstange im Trainingssaal eingesetzt. Beim Auslaufen in Southampton hüpfen die Tänzer auf drei großen Kabelrollen, im Maschinenraum demonstrieren sie Dynamik an vielen kleinen. Sie hängen an Seilen, klettern über Leitern, balancieren auf einer skulpturalen Wippe. Weiße Deckchairs für die gestylten Gäste der ersten Klasse, weiße Kühlschränke im Schiffsbauch als Bild des Untergangs. Alles ist edel schwarz-weiß mit ein wenig Grau. Nur einmal tritt ein bulliger Boxer mit roten Handschuhen gegen eine grazile Ballerina auf Spitze an. Gefühlt ist es in der Mitte des Stücks; und was wie ein Bruch erscheint, ist vielleicht die zentrale Aussage: Der Mensch fordert eine Natur heraus, die als geistiges, selbst organisiertes Wesen interpretiert wird. Aber vielleicht sind Boxer und Ballerina nur die Unterhaltungskünstler, die auf keinem Dreamliner fehlen.

Das Betanzen der von Plessi gelieferten Bauten und Objekte ist die choreografische Grundidee. Flamand zeigt dabei weder bemerkenswerte Breite des Vokabulars, noch fesselnde Individualität, aber wunderschöne Bilder von müßigen Luxusgästen, die ein Sturm verweht, von schwer arbeitenden Maschinisten, von dramatischer, mit übergroßen Schatten effektvoll ausgeleuchteter Längsbewegung auf einem hohen Deck, die zu dekorativ ist, um chaotisch oder beängstigend zu wirken. Das Tanzstück illustriert unterschiedliche Atmosphären, aber keine ist so, dass man sie spontan mit dem spektakulären Schiffsunglück in Verbindung brächte. Während die Titanic sinkt, tanzen sieben Kühlschränke ein diszipliniertes Ballett, und wenn sie versunken ist, tanzen die zuvor heftig herumspringenden Menschen ein sanftes, schmalziges Tänzchen.

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