Ludwigshafen Berlin: Stadt enttäuschter Hoffnung

Ihrem Romanerstling „Berlin liegt im Osten“ hat Nellja Veremej auf dem Mannheimer Museumsschiff vorgestellt. Es ist ein echter Berlin-Roman und seit 2013 schon in dritter Auflage erschienen. Sie ist nach Katja Petrowskaja die zweite Russin in der aktuellen Lesesaison von „Europa/Morgen/Land“, und es sieht so aus, als deute sich darin eine Zäsur an: weg von einer Migrationsliteratur, hin zur Literatur.

Der literarische Migrationskult ist ein merkwürdiges deutsches Phänomen. In einer Sprache zu schreiben, die nicht die Muttersprache war, wird als besondere Leistung herausgestellt. Es gibt dafür einen speziellen Preis, der nach dem deutschen Romantiker Adelbert von Chamisso benannt ist, bei dem man einen hugenottischen Migrationshintergrund entdeckt hat. In der Weltliteratur ist der Wechsel zu einer anderen Sprache recht häufig und hängt mit der Anziehungskraft literarischer Zentren zusammen. Dass der französisch schreibende Samuel Beckett aus Irland stammte, sein Kollege Eugène Ionesco aus Rumänien, fand niemand erwähnenswert, als ihre Stücke auf deutschen Bühnen Triumphe feierten. Und beim Ungarn Ödön van Horváth interessierte nicht, dass er erst als Zwölfjähriger Deutsch gelernt hat. Der literarische Migrationskult hat also spezifische Ursachen. Er hat keineswegs nur leuchtende Blüten, sondern auch viel geschickte Vermarktung hervorgebracht. Was die Leserschaft erwartet und goutiert, sind Türken mit einem nie endenden Gefühl des Andersseins; sind Balkanflüchtlinge in elegischer Dauerklage; sind Orientalen, die Sehnsuchtsbrücken schlagen. Trennt sich jetzt die Spreu vom Weizen, kommen endlich Autoren nach vorn, deren Beiträge die deutsche Literatur bereichern? Wie Katja Petrowskaja hat Nellja Veremej in Russland studiert und erst als Erwachsene Deutsch gelernt. Bei beiden ist beim Lesen der russische Akzent deutlich hörbar; aber Phonetik hat nichts mit Literatur zu tun. „Berlin liegt im Osten“ ist ein Berlin-Roman, der am Alexanderplatz spielt, literarisch ein Verweis auf den Roman von Alfred Döblin, geografisch-politisch auf Ostberlin, Hauptstadt der DDR. Die hier zusammengeführt werden, sind die russische Einwanderin Lena und Herr Seitz, der Journalist war, mit der Wende seinen Job verlor und nun ein graues Rentnerdasein führt. Sie haben beide, so Ich-Erzählerin Lena, „einen Großteil unseres Lebens unter roten Fahnen verbracht“. Ihr früheres Leben ist in die Gegenwart eingeflochten, die beiden nicht gebracht hat, was sie sich erhofften. Die Autorin erzählt subtil und behutsam von den kleinen Dingen, die im Leben meist die großen Unterschiede machen. Früher und heute, hier und dort gibt es Licht und Schatten. Gerade die Mischung ist für Lena schmerzhaft. Hier hat Nellja Veremej viel Autobiografisches verarbeitet. Lena hat früh die sowjetische Provinz verlassen, in der ihre Mutter allein zurückgeblieben ist. Sie zog zum Studium ins weltläufige Leningrad und später ins westliche „Paradies“. Ihre große Liebe kam ihr dabei abhanden. Sie ist Altenpflegerin und lebt mit ihrer herangewachsenen Tochter in einer Zwei-Zimmer-Wohnung am Alexanderplatz. Es ist ihr peinlich, dass sie es nicht weiter gebracht hat. Ihrer Mutter, die zu Besuch nach Berlin kommt, sagt sie, dass sie Russisch unterrichte; das ist mehr als Altenpflegerin. Die bäurische Vierschrötigkeit der Mutter ist Lena ebenfalls peinlich. Tochter Marina kichert über deren naive Weltuntergangsängste. Berlin ist für Nellja Veremej der Ort, an dem sich zwei tektonische Platten der Zeitgeschichte aneinander reiben. Wie die osteuropäischen Metropolen ist es eine relativ junge Stadt. Sie wollte ein Berlin-Buch mit Ostbezug schreiben, sagte sie, und auf keinen Fall in die Kategorie „Frauenroman“ oder „Migrationshintergrund“ gesteckt werden. Der Frage nach ihrer „Beurteilung der gegenwärtigen Lage“ wich sie klug aus: „Alle reden, wissen aber nur wenig. Es ist eine komplexe und gefährliche Situation“. Sie warb für ein „Weg von dem bewertenden Blick“, für ein „menschlicher machen“ statt zu ideologisieren.

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