Ludwigshafen Schwebende Fische und andere Träume

Im Schlafanzug im Schlaraffenland: Uwe Topmann in Ulrike Stöcks Inszenierung.
Im Schlafanzug im Schlaraffenland: Uwe Topmann in Ulrike Stöcks Inszenierung.

„Utopie – Eine Recherche über die Zukunft“ nennt Ulrike Stöck ihre Inszenierung zum Spielzeitbeginn des Jungen Nationaltheaters . Utopien über unsere Welt in hundert Jahren kommen darin in der für die jugendliche Zielgruppe relevanten Form von Träumen und Wünschen zwar auch zur Sprache. Doch am nachhaltigsten wirkt die performative Form der Darstellung, in der sich die Zukunft des Theaters, wie sie vermutlich aussieht, andeutet.

„In hundert Jahren wird sich unsere Arbeit von selbst verrichten, während wir schlafen und träumen. Am Tag haben wir Freizeit“, sagt Einer, von dem Schauspieler Uwe Topmann dargestellt. „Dann muss ich nicht mehr zur Schule gehen, weil ich im Traum schon alles gelernt habe“, freut sich Alma Heiden, die das Kind spielt. „Wie weiß ich, was ich im Traum erledigen muss?“, gibt Eine zu bedenken, die Schauspielerin Patricija Katica Bronic. „Du musst deine Träume eben richtig organisieren.“ „Und was mache ich dann am Tag?“ „Ich arbeite gern in meiner Freizeit“, wirft die ältere Frau ein, die Manuela Albu-Schreyer gibt. Utopien sind eine komplexe, philosophisch unterfütterte Angelegenheit. So einfach kann man ihre Vielschichtigkeit auf den Punkt bringen. Alltägliche Gedanken und allbekannte Gefühle senden Impulse in unterschiedliche Richtungen aus und knipsen Themen an, die der Zuschauer aufnimmt oder auch nicht. Kuschelig vereint liegt das Quartett in dieser zentralen, aber einzigen Dialogszene unter Betttüchern und auf ausgebreiteten Kissen. Alle tragen Schlafanzüge in ähnlich fahlen Farben wie das Bettzeug. Die meiste Zeit gehen sie sorgfältig choreographiert umher, ordnen Kissen und Tücher um und geben Statements ab. Es ist ein sonderbares Quartett aus zwei Profis und zwei Amateuren mit großen Altersunterschieden und doch erstaunlich homogen. Dass alle wie abstrakte Figuren schattenhaft und somnambul wirken, liegt am Lichtdesign von Fred Pommerehn und an der Musik, an der sie entlangagieren. Die Musik, das ist der elektronische Sound von „Utp_“, dem Mannheimer Auftragswerk von Alva Noto und Ryuichi Sakamoto zum 400-jährigen Stadtjubiläum. Sie ruft Gefühle hervor, die eher zu einer Dystopie passen, einer alptraumhaften Zukunftsvision, als zu einer positiv besetzten Utopie. Wenn ein bunter Fisch durch den Raum schwebt, während die Akteure schlafend auf dem Boden liegen, ruft das im Publikum leises Lachen hervor. Wenn es eine Spielzeugdrohne ist, kommt Beklemmung auf. Dass solche Ambivalenz die Zuschauer in Atem hält, besorgen auch Zitate aus einer Utopien-Sammlung von 1909 mit ihrer Friedenseuphorie am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Hundert Jahre in die Zukunft gehen Hand in Hand mit hundert Jahren in die Vergangenheit. Wie es damals war, das erzählt der Schauspieler anhand der Biographie seines Großvaters; das Kind wurde nämlich erst 2010 geboren und ist noch ohne erinnerte Vergangenheit. Die Inszenierung ist von einer wirkmächtigen, rein abstrakten Optik geprägt, in der sich diffuse Gefühle artikulieren, die von der Musik hervorgerufen werden. An die Stelle von Handlung treten Statements, Charaktere mutieren zu deren Sprachrohren. Bewegung und Tanz illustrieren nicht einfach die Statements, sondern drücken bisweilen anderes aus, als die Worte sagen. Der Ort, an dem dies alles geschieht, ist abstrakt und virtuell. In einer solchen Konstellation nimmt es kaum wunder, dass die Inszenierung der Intendantin des Jungen Nationaltheaters bei der Stadt Mannheim ankommt (Stichwort „Utp_“), und eine sich über diese definierende Identität aufbaut. Wenn wir erfahren, dass der Kurfürst bei der Stadtgründung 1607 Neubürger durch Vergünstigungen anlockte, sind wir beim Thema „Migration“, ohne dass auch nur das Wort fiele. „Utopie“ spinnt damit einen Gedanken fort, der bei Zeitraumexit mit dem „Mannheimer Erbe der Weltkulturen“ seinen Anfang nahm. Bei der Utopie eines Theaters als soziokulturellen Raums hat die Inszenierung die Nase vorn. Schillers Utopie, dass Theater die Nation einen soll, ist ein Wunschtraum geblieben. Aber das Nationaltheater eint die Stadt Mannheim bis zum heutigen Tag und wird dies wohl auch in Zukunft tun. Termine Vorstellungen heute um 11 Uhr und am 11., 13. und 14. November. Karten unter der Rufnummer 0621/1680-302 sowie unter www.nationaltheater-mannheim.de

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