Ludwigshafen Rollstuhl im Dornröschenschlaf

Wohnungen müssen Konsumtempeln weichen. Der Fotograf fängt gerne vergängliche Momente ein.
Wohnungen müssen Konsumtempeln weichen. Der Fotograf fängt gerne vergängliche Momente ein.

Es ist der Zerfall, der Marcel Zieker reizt. Das Fragile. Das Verlorene. Das anscheinend Leblose. Doch die Fotografien seiner ersten Ausstellung in der Mannheimer Dankbar sind alles andere als leblos, auch wenn sie verlassene Orte zeigen. Auf manchen ist die düstere Geschichte spürbar wie im Fachwerkhaus „Neue Welt“ – einst Ausflugslokal, später Folterkammer.

Pflanzen schlingen sich um zwei Rollstühle. Die Natur holt sich auch die Fensterrahmen zurück. Was ist dort geschehen? Wie kam es zum Dornröschenschlaf? Die Gedanken können schweifen. Im Nebengang der Dankbar jedoch gibt es eine Auflösung des Rätsels. Denn dort hängt Marcel Zieker Zeittafeln zu den gezeigten Orten auf. Bis 1999 ist beispielsweise der Kümmelbacher Hof bei Neckargemünd, in dem Zieker die Rollstühle entdeckte, als Altersresidenz genutzt worden. „Die Zeit legt den Mantel darüber“ lautet der Titel der Ausstellung in der Dankbar im Mannheimer Gründerinnenzentrum Gig7. Fotograf Zieker zeigt dort eine kleine, aber eindrucksvolle Auswahl von zerfallenen oder dem Abriss geweihten Gebäuden in Neckargemünd, Stuttgart und Magdeburg. Wie viele „Lost-Places“-Fotografen es tun, schönt der 37-Jährige seine Bilder nur kaum oder gar nicht. „Ich möchte die Orte darstellen, wie sie sind. Nicht den Glanz der alten Zeiten“, sagt er. Filter nutze er daher kaum. Retuschiert wird nur wenig. Und das ist auch gut so. Denn damit bleibt in den Fotografien etwas erhalten: die Seelen derjenigen, die an diesen Orten einst lebten. Fast unwirklich erscheinen daher manche der Bilder. „Überall steckt viel Geschichte, viel Erlebtes drin“, sagt der Fotograf, der in Leimen aufwuchs, mehrere Jahre in Heidelberg lebte und nun im Mannheimer Stadtteil Lindenhof wohnt. Doch das Erlebte war nicht immer gut, wie sich zum Beispiel aus der Geschichte seiner Magdeburger Bilder herauslesen lässt. Das Gasthaus „Neue Welt“, einst ein Ausflugslokal, entwickelte sich in der NS-Zeit zur Folterkammer (1933). Kurz darauf, 1934, fanden dort Schwimm-Europameisterschaften statt. 1945 folgte ein Massaker an Gefangenen. 2013 sorgte Brandstiftung für den Niedergang des Fachwerkteils des denkmalgeschützten Gebäudes. Ein Foto zeigt einen Holzblock, der stark einem Kreuz ähnelt. Er schwebt bedrohlich über dem Betrachter. Daneben ein Gashahn und ein Stromkabel. Was dort alles passiert ist, bleibt der Fantasie überlassen. Doch der Zerfall ist spürbar. Ein anderes Foto bildet einen abgedunkelten Raum ab, durch den sich Sonnenlicht quetscht. Und es wird deutlich, dass es Kräfte gibt, die kein Mensch aufhalten kann. Die Gebäude, die Marcel Zieker in Stuttgart fotografiert hat, gibt es heute nicht mehr. Sie sind 2011 dem Einkaufszentrum „Gerber“ gewichen. Die Bilder sind skurril. „Sie erzählen vom konsumgesteuerten Bauwahn der baden-württembergischen Landeshauptstadt“, findet der Künstler. Wohnungen mussten weg, der Konsumtempel war wichtiger. Und seine Bilder? Sie zeigen skelettartige Überreste, fast wie Mahnmale. Seit 25 Jahren beschäftigt sich Marcel Zieker mit der Fotografie. Als Zwölfjähriger war er der jüngste Teilnehmer einer Oberstufen-Foto-AG seiner Schule. Er ist Mediendesigner, möchte sich aber eine Existenz mit der Fotografie aufbauen. Nicht nur „Lost Places“, verlassene Orte, haben es ihm angetan. Und so arbeitet er auch schon an der nächsten Ausstellung, bei der er sich dem Thema Spiegelungen und Schatten widmet. Damit bewegt er sich nicht weit weg von der aktuellen Ausstellung. Denn auch diese Momente, die er dabei einfängt, sind vor allem eines: vergänglich und fragil. „Mir geht es beim Fotografieren darum, die kleinen Momente festzuhalten – eine flüchtige Spiegelung in einem einfahrenden Zug“, sagt Marcel Zieker. Und fügt er hinzu: „Ich möchte keine Hochglanzfotografien schaffen. Ich möchte dokumentieren und interpretieren.“ Die Ausstellung Das Kulturcafé „Dankbar“ befindet sich im Quadrat G7, 22. Die Fotos in Acrylprint-Technik sind dort bis 16. Mai zu sehen.

Marcel Zieker.
Marcel Zieker.
Ungefiltert: Marcel Ziekers Fotos wirken trotzdem fast unwirklich.
Ungefiltert: Marcel Ziekers Fotos wirken trotzdem fast unwirklich.
x