Ludwigshafen Rechtsstaat statt Rache

Vereint in der Trauer über all die Toten: Ein Fluch lastet auf Agamemnons Haus, der zu einer endlosen Spirale von Rache und Gewa
Vereint in der Trauer über all die Toten: Ein Fluch lastet auf Agamemnons Haus, der zu einer endlosen Spirale von Rache und Gewalt führt.

Agamemnon, der mächtige griechischer Heerführer, hat seine Tochter Iphigenie geopfert, um seiner Flotte günstigen Wind für die Überfahrt nach Troja zu verschaffen. Für diese Tat erschlägt zehn Jahre später Klytaimnestra ihren siegreich heimkehrenden Gatten. Der gemeinsame Sohn Orest wiederum rächt den toten Vater, indem er die eigene Mutter tötet. In der „Orestie“ wird eine blutige Geschichte von Rache und Gewalt erzählt, eine Geschichte, die in mythologische Vorzeiten zurückreicht bis zu König Tantalus, der einst die Götter herausforderte und von diesen mitsamt seiner Nachkommenschaft auf ewig verflucht wurde. Der Dramatiker Aischylos unterbricht diese Spirale blutiger Gewalt, am Ende seiner Tragödientrilogie wird Orest nicht Opfer der Erinnyen, der Rachegöttinnen, sondern landet in einer Gerichtsverhandlung mit offenem Ausgang. Seit Peter Steins legendärer Inszenierung von 1980 sehen die Theater in der „Orestie“ die Beschreibung der Anfänge von Rechtsstaatlichkeit. Die dunkle Zeit der Blutrache ist vorbei, das hellere Zeitalter von Recht und Gesetz nimmt seinen Anfang. Die Menschen sind nicht länger einem von mutwilligen Göttern verhängten Schicksal ausgeliefert, sondern treffen ihre Entscheidungen selbständig und eigenverantwortlich. Sie können wutentbrannt zur Axt greifen, sie können aber auch innehalten, nachdenken, zweifeln, sich am Ende vielleicht an einen Tisch setzen und miteinander reden. Dieser Gedanke trägt auch Johanna Wehners wunderbare Inszenierung, die vom Staatstheater Kassel nach Ludwigshafen kam. Auch Wehner benutzt Peter Steins der Gegenwartssprache angenäherte Übertragung, komprimiert dessen Acht-Stunden-Fassung allerdings zu einem kompakten Zwei-Stunden-Abend, der die Geschichte spannend und jederzeit verständlich erzählt. Der kluge Einsatz von Licht und Musik schafft dabei eine fast rhythmische Struktur. Die Regisseurin mischt ihrer Version allerdings mehr skeptische Distanz bei. Die Menschen können zwar selbst über ihr Tun entscheiden, was aber nicht zwangsläufig zum Guten führt. Die Götter haben ihren Schrecken vielleicht verloren, ihrem Gewissen folgen die Menschen deshalb noch lange nicht, lassen sich von Eitelkeit, Machtgier und Besitzdenken leiten statt von Vernunft und Humanität. „Was habe ich gewonnen?“, fragt am Ende der knapp frei gesprochene Orest einigermaßen ratlos. Die Regisseurin schickt ihre Darsteller in diese Geschichte wie in einen von düsterer Wehmut erfüllten Traum. Der Palast von Mykene ist ein heruntergekommenes Spukschloss mit blätterndem Putz, verbogenem Treppengeländer und blinden Spiegeln. Die alte Standuhr steht schon lange still, und aus dem verkalkten Wasserhahn fließt Blut. Nur zwei Kronleuchter lässt Bühnenbildner Benjamin Schönecker noch von besseren Zeiten künden, aber auch die verbreiten nur gelblich-fahles Schummerlicht. Die neun Schauspieler bilden den Chor, aus dem sich die Einzelfiguren bei Bedarf herauslösen, um später wieder in der Gruppe der besorgten Bürger aufzugehen. Sie tragen Jeans, Poloshirts und Wolljacken, sind ängstlich, wankelmütig, eher schlichte Gemüter und allzu schnell verführbar, geben sich gerne mal empört und misstrauisch gegenüber den Mächtigen. Wirklich einig sind sie sich aber nicht und zum entschlossenen Aufbegehren fehlt ihnen ohnehin der Mut. „Wer schweigt, dem geschieht nichts“, ist ihr vielfach wiederholtes Lebensmotto. Obwohl der Text in großen Teilen immer noch chorisch gesprochen wird, besteht dieses Kollektiv aus identifizierbaren Einzelnen, die immer wieder ihre Aufmerksamkeitsmomente bekommen. Das Kasseler Ensemble agiert hier jederzeit auf bemerkenswert hohem Niveau. Zwischendurch werden dann aus Mitgliedern der Chorgruppe die Hauptfiguren des Stücks: ein vom Krieg erschöpfter Agamemnon (Bernd Hölscher), eine verzweifelt in die Schicksalsfalle tappende Seherin Kassandra (Caroline Dietrich), eine immer noch um die geschlachtete Tochter trauernde Klytaimnestra (Christina Weiser) oder ein eher unwillig in die Rachetat gedrängter Orest (Hagen Bähr). Zur Gerichtsverhandlung drängen sie sich vorn am Bühnenrand, sind jetzt ganz nah beim Publikum. Empört ertragen sie die Argumente der anderen, fügen sich murrend ins Urteil der unsichtbaren Geschworenen. Glücklich ist am Ende keiner, vereint nur in der Trauer über all die Toten. Und alle wissen, um dem Kreislauf blutiger Gewalt zu entkommen, gibt es keine bessere Lösung.

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