Ludwigshafen „Man muss das Leben in die Kunst lassen“

In dem Tanzstück „Hieronymus B.“ werden die Visionen des spätmittelalterlichen Malers Hieronymus Bosch lebendig.
In dem Tanzstück »Hieronymus B.« werden die Visionen des spätmittelalterlichen Malers Hieronymus Bosch lebendig.

Opulente Gesamtkunstwerke zaubert die Niederländerin Nanine Linning: Mal verwandelt sie ihre Tänzer mit Designer-Kostümen in kuriose Wesen, mal zeigt sie den Menschen in seiner Nacktheit wie der spätmittelalterliche Maler Hieronymus Bosch. Mit ihrer Heidelberger Produktion „Hieronymus B.“ gastiert sie im Ludwigshafener Pfalzbau. Hier gestaltet sie künftig bei den Festspielen das Tanzprogramm.

Sie hat nie in einer Kompanie getanzt, nur in ihrer eigenen. Und die krasseste Rolle übernahm Nanine Linning gleich selbst: ertrinkend in einer Kloschüssel, der Körper von Krämpfen geschüttelt, während das Gesicht unter Wasser gefilmt wird. In „Bacon“ war das, ihrem Schlüsselwerk von 2005, in dem sie ihren Tänzern abverlangt, sich kopfüber von der Decke zu winden, sich Instinkten und Begierden hinzugeben, ja, sich zu entmenschlichen. Doch selbst im Abgründigen findet sie Schönheit. Als die Niederländerin dem Werk des Malers Francis Bacon begegnete, fand sie darin sich selbst. „Bacon hat sich als Mensch nicht vom Künstler getrennt, und so geht es mir auch. Man muss das Leben in die Kunst lassen und die Kunst ins Leben“, sagt die 40-Jährige beim Interview im Pfalzbau. Sie kommt mit nacktem Gesicht. Den Pferdeschwanz muss sie erst lösen, den blutroten Lippenstift als ihr Markenzeichen auftragen. Ihre Sneakers streift sie ab, um mit bloßen Füßen in die Metallic-Boots zu schlüpfen, als würde sie sich noch einmal von der jungen Schulabsolventin in die weltumarmende Künstlerin und toughe Business-Lady verwandeln. Mehrfach hat sie sich gehäutet in ihrem Leben und steht kurz davor, sich wieder neu zu erfinden. Den Willen, schöpferisch zu arbeiten, spürte die Niederländerin früh, so früh, dass sie mit 18 Jahren ihren Abschluss in Choreographie an der Rotterdam Dance Academy machte. Als Europas jüngste Haus-Choreographin wurde sie mit 24 beim Scapino Ballet in Rotterdam engagiert, wo sie Preise gewann und mit ihren klaren Strukturen und dem spektakulären Lichtdesign überzeugte. Bis sie 2000 ihre eigene Kompanie gründete und im Maler Bacon ihr Vorbild fand. „Die Liebe zum Körper ist der Ausgangspunkt, aber nicht das Ende. Ich suchte nach einer echten Integration der Kunstformen.“ Dieses Arbeiten im sterilen Ballettsaal hatte sie immer unbefriedigend gefunden, jetzt lud sie Graffiti-Künstler ein, die Wände zu besprühen, kochte mit ihren Tänzern im Studio, werkelte dort am Bühnenbild. Tanz verband sie mit Multimedia, mit Fashion-Shows, einem Rockkonzert oder gar den Erkenntnissen von Neurowissenschaftlern, um die Emotionen der Zuschauer zu erforschen. „Als ich bei ,Bacon’ auf meinen Einsatz wartete, sah ich, wie die Zuschauer immer im gleichen Moment auf die gleiche Weise reagierten, bei einem aggressiven Duett.“ Linning lernte, wie man die Gefühlskurve steuert: durch Körpersprache, Musik und eine Dramaturgie, in der sich Probleme aufbauen und lösen. Sie webt atmosphärische Texturen aus Bewegung, entführt mit avantgardistischen Kostümen in Fantasiewelten und umfängt die Zuschauer mit Gesamtkunstwerken. Sinnlich auf die Spitze getrieben ist das in dem Tanzstück „Khôra“ (2016), in dem die Tänzer Geschmacksexplosionen eines Food-Designers reichen und Sekt ausschenken, während sie als lebende Kronleuchter kopfüber von der Decke hängen. Mit ihrem Gespür fürs Publikum hat sie dem Theater Heidelberg ausverkaufte Vorstellungen beschert. Das Einsaugen des Betrachters in eine Fabelwelt gefällt Linning auch am Werk von Hieronymus Bosch, das jetzt im Pfalzbau zu sehen ist. Linning erweckt nicht nur die monströsen Wesen aus dem berühmten Gemälde „Garten der Lüste“ in ihrem „Hieronymus B.“ zum Leben, sondern lädt die Zuschauer auf Tuchfühlung ein: Jeweils die Hälfte des Publikums wimmelt abwechselnd auf der Bühne. Zugleich erzählt sie von Boschs Epoche im Übergang zur Renaissance und der Entdeckung der Freiheit. Die Kritiker jubelten, und das Stück avancierte zum Publikumsliebling, weshalb Linning es nun mit neuen Tänzern noch einmal einstudiert hat. Es ist ihr Abschiedsgeschenk. Die 40-Jährige verlässt zum Ende der Saison das Heidelberger Stadttheater, denn die Zeit ist reif für einen weiteren Schritt. In Osnabrück war sie – eingeladen von Intendant Holger Schultze – ab 2009 in den Genuss gekommen, spartenübergreifend auch in der Oper zu arbeiten. Mit Schultze schickte sie sich ab 2012 an, eine Tanzsparte in Heidelberg aufzubauen und gründete in Kooperation mit dem Unterwegs-Theater das Choreographische Centrum, das die freie Szene fördert. Gemeinsam hoben sie eine Tanzbiennale aus der Taufe, um andere künstlerische Handschriften an den Neckar zu holen. Über ihren Ruf als Business-Frau lächelt sie. „Man muss Verantwortung für seine Karriere übernehmen. Wenn ich Geld einspiele und dadurch mein Budget verdopple, engagiere ich mich gerne dafür. Ein Ensemble ist letztlich auch ein Unternehmen.“ Von Heidelberg aus baut sie nun eine freie Kompanie auf, mit der sie touren will. Danach sehnte sie sich im Theater vergeblich: „Zwei Monate konzentriert zu proben und dann zwei Monate zu spielen, damit man an jeder Vorstellung weiter feilen kann.“ Und die Welt ruft: Die Niederländerin genießt international so viel Ansehen, dass sie von Ensembles eingeladen wird, demnächst von der Rambert Dance Company in London. Pfalzbau-Intendant Tilman Gersch gewann Linning für die nächsten zwei Jahre als Tanzkuratorin für die Festspiele. Er arbeitet mit wechselnden Programmmachern, weil er „verschiedene Blicke auf den Tanz richten“ will. „So können wir über die Gastspiele hinaus auch eine Person der Tanzszene vorstellen“, sagt Gersch. „Nanine Linning habe ich gefragt, weil ich sie als eine ausdrucksstarke Künstlerin empfinde.“ Linning will zu ihren Programmplänen noch nichts verraten, freut sich aber auf „sehr spezielle Produktionen“. Ihre Vorliebe für Gesamtkunstwerke, die Mode, Film, Technik und Malerei verschmelzen, wird sich auch im Programm niederschlagen. „Hieronymus B.“ bietet einen Vorgeschmack. Termine —„Hieronymus B.“ von Nanine Linning am Freitag, 23. Februar, 19.30 Uhr, im Theater im Pfalzbau in Ludwigshafen. Öffentliche Generalprobe heute um 19.30 Uhr. Kartentelefon: 0621/5042558. —„Khôra“, „Bacon“ und „Dusk“ noch in dieser Saison am Stadttheater in Heidelberg. Termine: www.theaterheidelberg.de.

Nanine Linning verlässt das Heidelberger Stadttheater, um eine eigene freie Tanzkompanie zu gründen. In Ludwigshafen ist morgen
Nanine Linning verlässt das Heidelberger Stadttheater, um eine eigene freie Tanzkompanie zu gründen. In Ludwigshafen ist morgen ihr Tanzstück »Hieronymus B.« zu sehen.
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