Ludwigshafen Hinreißendes Scheitern

Die Schriftstellerin Irmgard Keun, aufgenommen 1981 in Berlin, ein Jahr vor ihrem Tod.
Die Schriftstellerin Irmgard Keun, aufgenommen 1981 in Berlin, ein Jahr vor ihrem Tod.

Hohe Bühnenkunst erlebte das Theater im Pfalzbau in Ludwigshafen mit dem Solo „Das kunstseidene Mädchen“ nach Irmgard Keun vom Renaissance Theater Berlin. Antonia Bill versteht es darin meisterhaft, sich selbst, die erfolgreiche Bühnendiva, mit ihrer Rolle einer Scheiternden zu verweben. Rainer Bielfeldt begleitet sie kongenial am Klavier.

Irmgard Keuns Roman „Das kunstseidene Mädchen“ erschien 1932, kurz bevor die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Die 27-jährige Autorin macht sich darin zur Stimme einer jungen Frauengeneration, die nach oben will. Das Buch wurde ein Bestseller und kurz darauf von den Nazis verboten. Irmgard Keun emigrierte nach Holland. Nach Jahrzehnten des Vergessens wurde der Roman wiederentdeckt, nicht zuletzt von der feministischen Literatur, obwohl Keuns Heldin keineswegs feministischen Vorstellungen entspricht. Es gibt mehrere Bühnenversionen. Regisseur Carsten Golbeck hat seine eigene gemacht. Er fokussiert die Handlung auf zwei Hauptepisoden: eine Weiberintrige im Provinztheater und eine aufkeimende Liebe in Berlin. Die Ich-Erzählerin brilliert in einem rotzig hintersinnigen Sprechstil, der umgangssprachlich und sprachschöpferisch zugleich ist. Sie singt ausdrucksvoll und stark. Die Liedtexte hat Golbeck inhaltlich aus dem Roman destilliert und formal an das literarische Kabarett der 1920er Jahre angelehnt. Die Musik hat Rainer Bielfeldt komponiert. Mit Grandezza begleitet er die Diva am Klavier und zieht sich stilvoll zurück, wenn die Bühne ihr allein gehört. Ihr langes Beigefarbenes passt überall, zum großen Auftritt ebenso wie zum Saubermachen in der Kleinbürgerwohnung. In einem Bühnenformat, bei dem ein Auseinanderfallen in Text/Handlung und Gesangsnummern meist nicht zu vermeiden ist, erreicht diese Produktion eine ästhetische Einheit mit erstaunlich aktueller Aussage. Das „kunstseidene Mädchen“ Doris – Irmgard Keun verschmilzt den abwertenden Begriff „halbseiden“ mit der chemischen Textilfaser „Kunstseide“ – wäre heute vielleicht eine Kandidatin für eine der vielen TV-Schauen, in denen nach dem Topmodel oder dem Superstar gesucht wird. Doris will nach oben, will „ein Glanz sein“. Sie ist allerdings viel zu intelligent und realistisch, um nicht zu durchschauen, dass sie da nur missbraucht werden würde. Sie wählt selbstbestimmt die alten weiblichen Wege zum Erfolg. Nicht aus Bequemlichkeit lehnt sie es ab, im Büro zu arbeiten, sondern weil sie in Abhängigkeit von ihrem Chef leben müsste. Und für eine, die nur Schreibmaschine und Steno gelernt hat, springt da ohnehin kein Glanz heraus. Zielstrebig macht sie sich an reiche und einflussreiche Männer. Doris ist bewundernswert klarsichtig, abgebrüht und schnodderig. Die Mischung aus Träumen vom Glanz, ein bisschen auch von echter Liebe, und Kampf um einen Platz an der Sonne bringt Antonia Bill hinreißend herüber. Jeder Satz mit zugehöriger Miene, jede Geste und wechselnde Körperhaltung sprechen Bände. In ihrer Provinzstadt gelingt es Doris, in die Statisterie des Theaters zu kommen. Von den Schauspielschülerinnen wird sie verachtet, doch das ändert sich, als sie eine Affäre mit dem Theaterleiter erfindet und dann mittels einer typisch weiblichen Infamie den einzigen Satz ergattert, den alle haben wollen. Sie klaut einen Pelzmantel aus der Garderobe – das Statussymbol bis in die 1960/70er Jahre – und geht nach Berlin, um ihr Glück zu machen. Doch mit den reichen Männern klappt es hier nicht so. Völlig abgebrannt landet sie bei dem Softie Ernstel, der seiner Ex nachtrauert. Aus anfänglicher Wut auf den Kleinbürger, der nur glanzlos gut ist, entwickelt sich eine zarte Liebe. Aber die hat keine Zukunft; Doris kehrt in ihre Unbehaustheit zurück. „Ein Glanz sein“ bleibt ein unerreichbarer Traum.

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