Ludwigshafen Eine Dokumentation feigen Mitläufertums

Géraldine Schwarz hat in der eigenen Familiengeschichte recherchiert.
Géraldine Schwarz hat in der eigenen Familiengeschichte recherchiert.

Um unterschiedliche Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Frankreich geht es in dem Buch der deutsch-französischen Journalistin Géraldine Schwarz anhand ihrer Familiengeschichte. Anlässlich der deutschen Übersetzung von „Die Gedächtnislosen“ hat sie es auf Einladung des Institut français in Mannheim vorgestellt.

Geschichte geht erst unter die Haut, wenn sie einen Anhalt an der eigenen Person und der eigenen Familiengeschichte findet. So ist es Géraldine Schwarz ergangen, als die gebürtige Straßburgerin im Keller ihres Elternhauses in Mannheim den Briefwechsel ihres deutschen Großvaters mit einem jüdischen Emigranten entdeckte. Die beiden stritten sich über die Höhe von Reparationszahlungen für ein während der Nazidiktatur zwangsenteignetes Unternehmen. Die Journalistin und Dokumentarfilmerin stellte weitere Nachforschungen an, auch bei dem französischen Teil ihrer Familie. Das daraus hervorgegangene Buch ist eine Dokumentation feigen Mitläufertums und einer von Opportunismus geprägten Gesellschaft. Die Autorin will es auch verstanden wissen als Mahnruf, antidemokratischen Tendenzen entgegenzutreten. 1935 trat Karl Schwarz in die NSDAP ein. Dass ihr hedonistischer Großvater überzeugter Nazi gewesen sei, bezweifelt Géraldine Schwarz. 1938 erstand er zu einem Spottpreis die Erdölfirma Löbmann & Co. Der jüdische Besitzer hatte vergeblich versucht, in letzter Minute noch ein Visum zu bekommen, um zu emigrieren. Im Oktober 1940 wurde die Familie mit den anderen Juden Südwestdeutschlands in das französische Internierungslager Gurs deportiert. Fast die gesamte Familie wurde später in Auschwitz ermordet. Nur Julius Löbmann gelang die Flucht. Nach dem Krieg forderte der Emigrant von Karl Schwarz eine Reparationszahlung in Höhe von 11.000 Mark, eine damals erhebliche Summe. Karl Schwarz weigerte sich und stilisierte sich zum „Opfer des jüdischen Profiteurs“. Diese Haltung erkennt Géraldine Schwarz als typisch für die Adenauer-Ära, die von „Herzlosigkeit“ gekennzeichnet gewesen sei und nur Mitleid mit sich selbst gekannt habe. Es ist ihrem Buch hoch anzurechnen, dass Géraldine Schwarz die Geschichte ihrer Familie in die umfassendere allgemeine Geschichte einbettet. Das lange Schweigen über die im „Dritten Reich“ begangenen Verbrechen erklärt sie sich unter anderem damit, dass das NS-Regime die Bevölkerung zu Komplizen gemacht habe. Ein „arisiertes“ Unternehmen zu kaufen oder Möbel und anderen Besitz Deportierter zu Schleuderpreisen zu ersteigern, war nicht erzwungen, sondern beruhte auf der Initiative jedes einzelnen. Dabei lobt die Autorin, dass es im Deutschland von heute einen ausgeprägten Sinn für persönliche moralische Verantwortung gebe. Das ganze Ausmaß der französischen Kollaboration habe dagegen erst in den 70er-Jahren der amerikanische Historiker Robert Paxton aufgedeckt. Ihr französischer Großvater etwa sei Gendarm des Vichy-Regimes gewesen und habe überwacht, dass keine Juden die Grenze überqueren. Die Erinnerung an die Diktatur lebendig zu halten und die Demokratie zu bewahren hält Géraldine Schwarz für zwei Seiten derselben Medaille. Der Ruf nach einem „Schlussstrich unter die Geschichte“ ist für sie daher gleichbedeutend mit einem Angriff auf die heutige deutsche Identität.

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