Ludwigshafen Die Gräuel der Geschichte

War in Osteuropa und im Kaukasus unterwegs: Navid Kermani.
War in Osteuropa und im Kaukasus unterwegs: Navid Kermani.

Als „public intellectual“, als Intellektuellen mit öffentlicher Wirkung, hat FAZ-Feuilletonredakteur Hubert Spiegel seinen Gesprächspartner Navid Kermani im Nationaltheater vorgestellt. Dessen Popularität zeigte sich an einem restlos ausverkauften Schauspielhaus in Mannheim, wo der Schriftsteller und Romanautor, Journalist und Orientalist sein neues Buch „Entlang den Gräben“ präsentiert hat.

„Entlang den Gräben“ ist nicht das erste Buch mit Reisereportagen aus Kermanis Feder. Vor fünf Jahren erschien „Ausnahmezustand“, die Beschreibung einer „Reise in eine beunruhigte Welt“ von Kaschmir nach Lampedusa. 2016 bereiste der Reporter dann die „Balkanroute“ der Flüchtlinge von Lesbos nach Deutschland. Sein neues Reisebuch führt nun durch Osteuropa in den Iran nach Isfahan, woher die Eltern des in Siegen geborenen Autors stammen. „Entlang den Gräben“ ist weniger eine Reise durch den Raum als eine Zeitreise in die Vergangenheit. Dabei geht es dem Schriftsteller mit deutscher und iranischer Staatsangehörigkeit nicht um seine persönliche Herkunftsgeschichte. Das Interesse des Reisenden gilt der jüngsten Geschichte. In Osteuropa begegnet er allerorten Erinnerungen und Gedenkstätten an die Gräuel des Zweiten Weltkriegs, im Kaukasus den Spuren des Völkermords, den die nationale Bewegung der Jungtürken im Schatten des Ersten Weltkriegs an den Armeniern verübt hat. Im Gebiet von Bergkarabach werde deutlich, „wie stark Geschichte wirkt“, bemerkt Kermani. Die Grenze zwischen Aserbaidschan und Armenien ist geschlossen, der Reisende muss einen weiten Umweg fahren, um auf die andere Seite zu gelangen. Der Krieg, den Aserbaidschan und Armenien 1988 um Bergkarabach geführt haben, sei für Aserbaidschan ein Krieg der Gegenwart gewesen, für Armenien ein Krieg der Vergangenheit. „Die Türken geben uns keine Chance, sie zu lieben“, sagte ihm ein armenischer Geistlicher, angesprochen auf das christliche Liebesgebot. Der Kaukasus markiert auch eine Identitätsgrenze des Reisenden mit den zwei Pässen. In Osteuropa wird er stets als Deutscher angeredet, in Georgien wird er zum Iraner. Die stärkste, zugleich mit Scham besetzte Identifikation zwingt ihm Auschwitz auf. Wie alle Besucher bekommt er bei der Besichtigung des früheren Vernichtungslagers einen Aufkleber mit seiner Nationalität an die Brust geheftet. Auf seinem steht: „deutsch“. Der Schrecken, der von dem Ort ausgeht, wo Millionen Menschen ermordet wurden, setzt sich weiter östlich fort. In Kaunas in Litauen stellten die Juden ein Drittel der 100.000 Einwohner, in Paneriai, einem Stadtteil von Vilnius, wurden fast alle umgebracht, und das, als der Massenmord noch nicht industriell organisiert war. „Darüber zu reden wird noch in fünf Generationen schwierig sein“, wird ein Jiddisch sprechender Sohn Überlebender im Buch zitiert. In Vilnius erinnert ein Museum zwar an den stalinistischen Terror, der Holocaust jedoch und die Beteiligung der Litauer daran wird beschwiegen. In Weißrussland, wo auf dem Rückzug der Wehrmacht die großen Schlachten ausgetragen wurden, stehen die Hinweisschilder auf Kriegsstätten und Vernichtungslager so dicht wie in Deutschland die auf Raststätten an Autobahnen, stellt der Reisende fest. Am tiefsten in die Vergangenheit aber taucht er ein, wenn er die bis zu 40.000 Jahre alten Steinmalereien von Qobustan bei Baku aufsucht. Dass früher alles besser gewesen sein könnte, belegen Kermanis Reportagen jedenfalls nicht.

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