Kreis Südwestpfalz Die Musik hatte schon aufgehört zu spielen
WIESBACH. Manchmal will es Richterin Susanne Thomas den Zeugen einfach leichter machen. Wenn sie da sitzen, die meisten zum ersten Mal im Zeugenstand, links der Staatsanwalt und die Anwältin des Opfers; rechts der Angeklagte samt Verteidiger; vorne, etwas höher, die Vorsitzende Richterin, daneben ein Richter und ein Schöffe, auf der anderen Seite noch ein Richter und noch ein Schöffe, und dazu noch die Gerichtsschreiberin oder deren Kollege. Wenn sie also da sitzen, zehn Augenpaare auf sich gerichtet, und sich erinnern sollen, wie das war am 11. September 2011, im Sportheim des SV Wiesbach, in der Nacht auf den Kerwesonntag, als die Musik gerade aufgehört hatte zu spielen. Dann fällt Susanne Thomas ins Pfälzische: „Sie ware uff de Kerb. Wie sich des fer e Wiesbacher Bu ah geheert. Was issen do bassiert?“, sagt sie dann. Oder „Jetzt erzehle Sie mol, was Sie gesiehn han, als es angefang hat zu rappele.“ Und einmal fragt sie einen Zeugen ganz einfach: „Was is bassiert uff de Kerb?“ Einfache Frage. Keine einfache Antwort. Zweieinhalb Jahre ist die Tat her, um die es geht: Ein junger Mann wurde gegen 3 Uhr nachts am Kerwesamstag mit zwei Stichen in den Bauch verletzt. An den Kerwesamstag im September 2011 sollen sich die Zeugen erinnern. An eine Nacht, in der getanzt und getrunken wurde. Einer der Beteiligten erinnert sich vor allem an eins: „Ich war auch sehr stark betrunken.“ 19 Zeugen hat das Gericht diese Woche gehört, sechs Polizisten und 13, die dabei waren. Aber der eine war im Saal, der andere in der Bar, der Dritte vorm Sportheim. Was sie gesehen haben, weicht immer wieder voneinander ab. Woran sie sich erinnern, auch. „Es ist unfassbar, jeder erzählt da was anderes“, platzte es schon am Dienstag, am ersten Verhandlungstag, einmal aus der Richterin heraus. Das war, als der letzte Zeuge des Tages beschrieben hatte, wie der Angeklagte ins Sportheim kam: „Eigentlich ganz normal.“ Dabei hatte doch eine Zeugin keine zwei Stunden zuvor wiederholt, was sie schon der Polizei erzählt hatte: „Wie ein Rabauke“ habe sich der Angeklagte aufgeführt, von den Tischen Gläser genommen und durch den Saal geschmissen und einen Stuhl in die Meute geworfen. „Er ist halt immer gern auf Krawall aus“, hatte sie erzählt, dass ihr der Angeklagte schon von früher als Störenfried bekannt war. Ob „wie ein Rabauke“ oder „eigentlich ganz normal“ – dass der Angeklagte auch in jener Nacht von Samstag auf Sonntag betrunken oder zumindest angetrunken war, darüber waren sich die Zeugen einig. Auch darüber, dass es kurz nach 2 Uhr im Sportheim eine Schlägerei gab, an der er und sein Sohn beteiligt waren. Aber wie und warum der Streit begann, weiß keiner mehr. Er endete damit, dass ein Spieler des SV Wiesbach am frühen Morgen in der Homburger Uniklinik operiert werden musste. Er habe großes Glück gehabt: Zwei Zentimeter weiter, und die Milz wäre durchtrennt worden, sagt ein Arzt später zu einem Polizeibeamten, der am Mittwoch aussagte. Die Tat an sich hat offenbar keiner der Zeugen genau beobachtet. Das Messer oder eine andere Tatwaffe wurde nicht gefunden. Zwar sprachen die Zeugen von einem Kampf zweier Personen, aber niemand hat gesehen, wie der eine zustach. Auch das Opfer selbst dachte zunächst, es habe zwei Schläge in den Bauch bekommen – bis Freunde ihn darauf aufmerksam machten, dass er stark blutet. Der Angeklagte, der im Prozess so gut wie keine Angaben macht, bestreitet die Tat. Der Mitte-40-Jährige war an dem Abend in Schmitshausen, als er sich entschloss, mit einem Bekannten nach Wiesbach auf die Kerwe zu fahren, wo sein Sohn den Abend verbracht hatte. Nach dem Streit gegen 2 Uhr im Sportheim wurden Vater und Sohn rausgeworfen. Draußen gab es wieder Krach, erst an der großen Linde, wo die Straße nach Wiesbach abknickt, dann etwas weiter Richtung Dorf. Dort sollen sich der Angeklagte und das Messerstich-Opfer einen Kampf geliefert haben, während der Sohn etwas abseits stand und einen Freund des Opfers mit einem Tritt von den Beinen holte. Das sei „aufgrund mehrerer Aussagen nicht mehr sehr zweifelhaft“, fand die Vorsitzende Richterin am Mittwochnachmittag und wollte vom Angeklagten wissen, ob er weiter bestreitet, zugestochen zu haben, und die Tat seinem Sohn, seinem Bekannten oder einem anderen Täter anlastet: „Machen wir jetzt weiter und bringen den unbekannten Dritten in den Raum?“, fragte sie. Für den Saarbrücker Rechtsanwalt Lars Nozar ist trotz der Zeugenaussagen noch nicht geklärt, „wer die Messerstiche ausgeführt hat“. Er stellt fast jedem Zeugen noch ein paar Fragen, und eine immer wieder: „Was meinen Sie, wann war Ihre Erinnerung besser? Damals, als Sie bei der Polizei ausgesagt haben, oder heute?“ Und dann liest er ihnen noch mal Antworten aus den Polizeiprotokollen vom Herbst 2011 vor. Manchmal fragt er, wieso sich ein Zeuge jetzt an ein Detail erinnert, das er damals nicht erwähnte. Und manchmal will er es ganz genau wissen: Was denn das Opfer über den Täter gesagt hat – „Der Vater war’s“? Oder „Der Alte war’s“? Oder doch „Der Ältere“? „Wir wissen noch immer nicht genau, wie und durch wen der Verletzte eben verletzt wurde“, schreibt Nozar in seinem Internet-Blog. Und er kündigt schon mal an: „Wir verhandeln noch einige Tage weiter, und ich habe noch ein paar Asse im Ärmel. Aber dazu kann ich hier nicht schreiben, da ich weiß, dass viele Richter und Staatsanwälte hier mitlesen. Daher bitte ich um Geduld.“ Dass überhaupt weiterverhandelt wird, liegt daran, dass der Fall zwar im Juni 2012 vorm Amtsgericht war, aber dann an die höhere Instanz verwiesen wurde. Dem Angeklagten wird gefährliche Körperverletzung vorgeworfen, aber vorm Amtsgericht stellte sich heraus, dass auch versuchte Tötung in Frage kommen könnte. Dann wäre die Tat schwerwiegender und ein Fall fürs Landgericht. Dass der Angeklagte in der Nacht vorm Sportheim mehrfach gedroht habe, jemanden abzustechen – das hatte eine Zeugin vorm Amtsgericht ausgesagt –, bestätigte diese Woche keiner der Zeugen. Die versuchtet Tötung steht deshalb zumindest vorerst nicht mehr im Raum. Man könne „aus jetziger Sicht aufgrund vieler und übereinstimmender Aussagen nicht von einer Tötungsabsicht ausgehen“, sagte Richterin Thomas am Mittwochnachmittag.