Kreis Germersheim „Wo unsere Faust hintrifft, wächst kein Halm mehr“
«Hagenbach». Am 24. September wird der Bundestag gewählt. Grundlage ist die allgemeine, gleiche, direkte und geheime Verhältniswahl. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte die deutsche Republik dieses freiheitliche Staatswahlrecht eingeführt. Hier ein Blick auf Wahlergebnisse in der Gemeinde Hagenbach.
Im Juni 1925 gehörte das Dorf zu den größeren Kommunen des Bezirks Germersheim. Knapp 94 Prozent der 2021 Einwohner waren katholisch, die übrigen protestantisch und jüdisch. Weit über 40 Prozent der Erwerbstätigen lebten vom Verdienst aus Industrie und verarbeitendem Gewerbe. Auspendler gingen in die Fabriken nach Maximiliansau und Karlsruhe. Eine konjunkturbedingt schwankende Zahl von Männern stand auf der Lohnliste des Bauunternehmers Emil Schneider. Der Firmeninhaber und wichtigste Arbeitgeber am Ort amtierte seit 1923 als Bürgermeister. Vier Tabakmanufakturen beschäftigten bis zur Weltwirtschaftskrise rund 110 vorwiegend weibliche und jugendliche Arbeitskräfte. Eine kleine Gruppe bildeten die selbstständigen Dorfhandwerker, Kleinhändler und die Angehörigen des öffentlichen Dienstes. Acker-/Gartenbau zwecks Selbstversorgung betrieben fast alle. Darum war der Übergang zu den ökonomisch wie statusgefährdeten Kleinbauern fließend. Sie machten die Hälfte der Berufsbevölkerung aus. Unter dem Mehrheitswahlrecht des Kaiserreichs wurde Hagenbach spätestens 1893 eine Bastion der katholischen Zentrumspartei. Diese hatte zwei Jahrzehnte lang mit den Nationalliberalen um die Vorherrschaft gestritten. Anfang 1919 veränderte das neue Verhältniswahlrecht den politischen Rahmen: Nun durften auch Frauen und die 20-Jährigen wählen, insgesamt 956 Personen, 145 Prozent mehr als 1912. Als Folge des schärferen Wettbewerbs und politischen Wandels stimmten die Einwohner 1919 für 4, 1932 jedoch bereits für 11 Parteien. Bei Landtags- und Reichstagswahlen votierten 61.7 (1924) bis 89.5 Prozent (1933) der Wahlberechtigten. Zeitweise drückten Lethargie, Frustration und Protest die Wahlbeteiligung. Darum lag sie 1919, 1924 (Mai) und 1932 beträchtlich unter der von Reich, Bayern/Pfalz und Bezirk. Nachkriegsnot, französische Besatzung und Inflation lasteten schwer auf den Einheimischen. Trotz dieser Bürde funktionierten Hagenbachs politische Milieus und Organisationen: Wie zuvor ebneten Pfarrer und kirchliche Vereine dem Zentrum sowie der 1919 abgespaltenen Bayerischen Volkspartei (BVP) den Weg. Politik- und Wahlbetrieb des katholischen Lagers oblagen dem im Dezember 1911 gegründeten Zentrumsverein. Ihm assistierte die im Januar 1913 errichtete Filiale des Volksvereins für das katholische Deutschland. Beide leitete der Kaufhausbesitzer Jakob Wollny, eine die Geister scheidende Graue Eminenz des Gemeindelebens. Schon Mitte März 1905 hatten sich die Sozialdemokraten formiert. Von zwei Unterbrechungen abgesehen, führte der Fabrikarbeiter Josef Vogel den 24 bis 28 Mann starken SPD-Ortsverein. Personell und ideologisch war er eng verbunden mit dem im Februar 1912 entstandenen Arbeitergesang- und Turnverein „Freiheit“. Inmitten der kleinbürgerlich-bäuerlichen Mehrheit taten sich Außenseiter schwer. An der Schwelle vom Agrar- zum Industriezeitalter bot die gespaltene Dorfgesellschaft auch zwischen den Wahlkampagnen konfliktreiche Kurzweil. Vor der Reichstagswahl 1930 erweiterte sich die lokale Polit-Szene: Eine KPD-Ortszelle besiegelte nun formell die Trennung des sozialistischen Lagers. Unter dem Arbeiter Ludwig Wayand hatte sie ein Dutzend Mitglieder. Zugleich riefen nationalsozialistische Sympathisanten um den Gemeindearzt Artur Schumacher einen „Stützpunkt“ ins Leben, dem Vorläufer der im April 1933 50-köpfigen NS-Ortszelle. Friedenssehnsucht und staatliche Neuordnung brachten der SPD Anfang 1919 ein Allzeithoch. 46.4 Prozent hievten sie vor Ort fast auf Augenhöhe mit dem politischen Katholizismus. 16 Monate später gingen die hoffnungsbefrachteten Zugewinne wieder verloren. Nicht aber die motivierten Stammwähler, wie die Aktion „Volksentscheid über die Enteignung der Fürstenvermögen“ im Sommer 1926 bewies. Fortan errang die Partei etwa ein Drittel der Stimmen – doppelt so viele wie im Bezirk und mehr als im Landes- und Reichsdurchschnitt. Das machte Hagenbach zum festen Bollwerk der SPD-Diaspora. Den Bezirks-Spitzenwert von 29 Prozent erreichte sie noch im März 1933. Seit Mai 1924 (7.6 Prozent) buhlten die Kommunisten um die SPD-Klientel. Massenarbeitslosigkeit und -not während der Weltwirtschaftskrise erhöhten die Wirkung ihrer Agitation. 1930 kletterte die KPD auf 5.1, 1932 (November) gar auf 11.2 Prozent. 1928/33 stimmten etwa 40 Prozent für die Linksparteien. Ihre katholischen Gegner blieben vorläufig überlegen. Nach Mobilisierungsschwächen legten Zentrum und BVP Mitte 1920 um 15 auf 62.5 Prozent zu. Bis 1930 behaupteten sie eine knappe absolute Mehrheit, obwohl sie 1924/27 wegen Meinungsverschiedenheiten pfalzweit getrennt operierten. Im Bezirk rangierte das republikloyale Zentrum weit hinter der agrarkonservativen BVP. Lediglich in Hagenbach übertraf es die „Schwesterpartei“ um 6.5 beziehungsweise 15 Prozent (Mai/Dezember 1924): Seine Repräsentanten besaßen im Dorf mehr Rückhalt. Seit 1928 fiel das erneuerte Katholiken-Kartell um 15 auf 36 Prozent (1933). In absoluten Zahlen betrug der Schwund gerade einmal 57 Stimmen (12.3 Prozent). Denn Zentrum und BVP verfügten über einen relativ stabilen Anhang. Jedoch fehlten Jung- und bisherige Nichtwähler. Außerdem lockerte sich die konfessionelle Bindung. Zwischen den Fronten der politischen Hauptlager suchten verschiedene Splitterparteien vergeblich einen Platz an der Sonne: Rechts- wie Linksliberale landeten halbiert bei 1.6 Prozent (1933). Die Deutschnationale Volkspartei scheiterte an der 1.2 Prozent-Hürde. Andere dümpelten im Promillebereich. Noch 1928 stagnierte die NSDAP in Hagenbach bei 1.3 Prozent. Dann profitierte sie von der Weltwirtschafts- und Staatskrise. Vor der Reichstagswahl 1930 setzten die Nationalsozialisten auf effiziente Mund-zu-Mund-Werbung, Versammlungen und SA-Propagandamärsche. Ferner auf Schlägereien, Einschüchterung, Nötigung, anonyme Drohungen und Bespitzelungen. „Ihr herausforderndes freches Benehmen“ sei „abgeschmackt und die Bevölkerung aufreizend“, bestätigte Ortsgendarm Pielmeier. Man sprach von „Hitler-Banditen“ und „verkommenem Pack“. Deren Antwort kam prompt: Gegner wurden „gemahnt“, „den Kampf gegen uns aufzugeben“. Andernfalls „sind wir gezwungen, einmal gründlich abzurechnen! Wo unsere Faust hintrifft, wächst kein Grashalm mehr“. Mitte September 1930 bejubelte das NS-Blatt „Der Eisenhammer“ den Durchbruch „im schwarz-roten Hagenbach“, 12.1 Prozent seien gewonnen. „Fleißige Mitarbeiter sorgen dafür, dass der Same in dieser Ecke weiter aufgeht“. Im Dauerwahljahr 1932 legte hier die Partei tatsächlich zu. Mit rund 20 Prozent war sie aber an ihre Grenzen gestoßen. Deshalb habe „es nicht an Provozierungen gefehlt“, rüffelte das SPD-Organ „Pfälzische Post“ die NS-Agitatoren, „denen in der Hauptsache die Verrohung der Sitten zu danken ist“. Entsprechend „hart und voller Leidenschaft“ verlief der Reichstagswahlkampf 1933. Eingeschränkte Grundrechte und der Staatsapparat begünstigten inzwischen massiv die NSDAP. Deren Redner proklamierte vor Hagenbacher Publikum den „Endkampf um Deutschland“. 26 Prozent hatten am 5. März nicht gereicht, um Zentrum/BVP und SPD auf Gemeindeebene zu überflügeln. Das war jetzt aber nebensächlich: Binnen kurzem besetzten die Nationalsozialisten sämtliche Schalthebel der Macht. Die bleierne Zeit der NS-Diktatur hatte begonnen. Lese-Tipp Der Autor hat Hagenbachs Staatswahl-Ergebnisse detailliert dargestellt: „Politik und Wahlverhalten in den Gemeinden des Bezirksamts Germersheim. Die Landtags-, Reichstags-, Reichspräsidentenwahlen und Volksentscheide von 1919 bis 1933“, in: Schriftenreihe zur Geschichte des Landkreises Germersheim, Bd. 4 (N.F.), Germersheim 2016, 276 Seiten, 19,80 Euro. Bestellung: VHS Germersheim, Tel. 07274/53-319 oder email: k.traeber@kreis-germersheim.de Vom Autor zum Thema: „Eine Blüte auf steinigem Grund. 100 Jahre SPD in Hagenbach (1905-2005). Arbeiterkultur und Sozialdemokratie in der südpfälzischen Landgemeinde Hagenbach. Eine Chronik nach Originalquellen“, [Hagenbach] 2005; „Die braune Macht im Dorf. Hagenbachs autochthoner Nationalsozialismus“, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 113 (2015).