Kreis Germersheim Politisch motivierte Gewalt im Dorfleben
«Bellheim.»Am 24. September 2017 wird der Bundestag gewählt. Maßgebend ist die allgemeine, gleiche, direkte und geheime Verhältniswahl. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte die deutsche Republik dieses freiheitliche Staatswahlrecht eingeführt. Es prägte auch das politische Gesicht der Gemeinde Bellheim.
Mit rund 3800 Einwohnern war die Kommune im Jahr 1925 die zweitgrößte des Bezirks Germersheim. Die zu dreiviertel katholische Bevölkerung lebte überwiegend von der Land- und Forstwirtschaft. Ein kleinerer Teil arbeitete in ortsansässigen Industriebetrieben: Zwei Tabakfabriken, eine Bürstenfabrik, die Filiale des Email-/Metallwerks Annweiler und die Brauerei Silbernagel. Schon unter dem Mehrheitswahlrecht des Kaiserreichs galt die Gemeinde als Hochburg der katholischen Zentrumspartei. Dagegen bevorzugte Bellheims protestantische Minderheit die Nationalliberale Partei, die rund ein Drittel der Stimmen errang. An diesem Kräfteverhältnis änderte das 1919 neu erprobte Verhältniswahlrecht scheinbar wenig. Tatsächlich begannen sich aber die politischen Gewichte der Dorfgesellschaft zu verschieben. Durch das auf 20 Jahre gesenkte Wahlalter und die erstmals einbezogenen Frauen waren nun 1975 Personen zugelassen, 128 Prozent mehr als 1912. Verdichtete politische Milieus ermöglichten feste lokale Parteiorganisationen: Seit Herbst 1891 hatte der fast 100 Mitglieder zählende Katholische Arbeiterverein Bellheim dem Zentrum vor- und zugearbeitet. Gleichartigen Zwecken diente der 1908 gegründete, 38 Personen starke Jungliberale Verein. Noch 1921 unterstützte er die in Deutsche Volkspartei (DVP) und Deutsche Demokratische Partei (DDP) umbenannten Rechts- und Linksliberalen. Im März 1920 betrat der SPD-Ortsverein die Szenerie. Ihn leitete der Schuhmacher Jakob Schmitt, ab 1930 der Fabrikarbeiter Karl Dörrzapf. Politisch-wirtschaftliche Turbulenzen drückten seine anfangs hohe Mitgliederzahl (1921: 183) bis Ende des Jahrzehnts auf einen Bruchteil (1929: 38). Ebenfalls im Frühjahr 1920 formierte sich die rechtskatholisch-konservative Bayerische Volkspartei. An ihrer Spitze stand die bis 1928 auch im BVP-Pfalzvorstand und Kreistag präsente Richter-Witwe Marie Foohs, die gut vernetzte Vorsitzende des hiesigen Frauenbundes. 1924 führte die Spaltung des politischen Katholizismus in der Pfalz zur Gründung eines örtlichen Zentrumsvereins. Er bewies soziales und republikanisches Profil. Den Vorsitz hatten Kaufmann Johann Heid und Weinhändler/Bürgermeister Jean Bayersdörfer. 1927 beendeten BVP und Zentrum ihren „häuslichen“ Konflikt und stellten gemeinsame Wahllisten auf. Vom Katholiken-Kartell profitierte vor allem das Zentrum, dem 1931/32 rund 100 Personen formell angehörten. Trotz Nachkriegsnot, französischer Besatzung und ruinöser Inflation: Die vom örtlichen Parteibetrieb ausgehenden Impulse stimulierten und mobilisierten. Seit 1924 stimmten jedes Mal mindestens 80 Prozent der wahlberechtigten Bellheimer ab. Ihre Beteiligung an den Reichs- und Landtagswahlen übertraf deutlich den Durchschnittswert des Wahlkreises und der Pfalz. Bis 1933 nahm die Dominanz des politischen Katholizismus kontinuierlich ab. BVP und Zentrum sanken von 55.5 (1919) auf 42.8 Prozent (1933). Dazu trugen säkulare Einflüsse und der umstrittene Kurs der Münchener BVP-Oberen bei. Im direkten Vergleich rangierte das Zentrum mit großem Abstand hinter der mächtigen Schwesterpartei. Seit der Reichspräsidentenwahl 1925 machte es zwar Boden gut, blieb aber Juniorpartner. 1919 löste die lange randständige SPD die Liberalen als zweitstärkste lokale Partei ab. 32.6 Prozent der Stimmen zeigten, dass die Sozialdemokraten auch in katholischen Kreisen Anklang gefunden hatten. Ab 1920 gewannen sie fast ein Viertel der Wähler, 1932/33 immerhin noch 22 Prozent. Anders als das stagnierende katholische Lager verbuchte die SPD in der Endphase der Weimarer Republik nach absoluten Zahlen einen leichten Zuwachs. Wegen der steigenden Wahlbeteiligung machte sich dieser prozentual nicht bemerkbar. Gefährlich wurden der SPD die 1924 mit 7 Prozent fulminant gestarteten Kommunisten nie. Sie zehrten von einem begrenzten Protestpotenzial, das für rund 2 Prozent der Stimmen reichte und sich 1932 kurzzeitig verdoppelte. Eine rasante Talfahrt erlebten die liberalen Parteien. 1932/33 versagte Bellheim der DDP/Staatspartei jegliche Stimme. Und die DVP stürzte von respektablen 18.4 Prozent (1920) in die Bedeutungslosigkeit (1933: 0.2 Prozent). Der politische Zusammenbruch des bürgerlich-mittelständischen Liberalismus kam ausschließlich den Nationalsozialisten zugute. 1930 hatten diese das Gros der liberalen Wähler aufgesogen, dazu den Anhang der kleinen Interessenparteien und Splittergruppen. In Bellheim besaßen die „Völkischen“ 1924 lediglich eine Handvoll Wähler, 1928 waren es schon gut 6 Prozent. Mitte Oktober 1926 etablierte sich auch eine NSDAP-Ortsgruppe, nach Freisbach und Germersheim die drittälteste des Kreisgebiets. 1930 gelang ihr der Durchbruch: 20.6 Prozent rückten die NSDAP nahe an die SPD. Längst hatte die eskalierende Wirtschafts- und Staatskrise der nationalistisch-antidemokratischen NS-Agitation unerhörte Schubkraft verliehen. Die anhaltende Absatz- und Produktionsflaute brachte Massenarbeitslosigkeit. Davon betroffen waren Anfang 1931 180 Bellheimer Männer, zwei Jahre später 270. Das Emaillierwerk beschäftigte noch die Hälfte der Stammbelegschaft – an 2 Wochentagen, die Brauerei an 3. 1932 schloss die Bürstenfabrik. Lausig entlohnte, obendrein eng befristete kommunale Notstandsarbeit für wenige war bestenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein des Massenelends. Politisch motivierte Gewalt bestimmte das öffentliche Leben auch außerhalb der Wahlkampagnen: Nahe Bellheim überfielen SA-Leute 2 Schulkinder, um ihnen die Wimpel der republikanischen Eisernen Front vom Fahrrad zu reißen. Im selben Sommer 1932 wurde im Ort eine 120-köpfige Formation der „Pfalzwacht“ aufgestellt. Sie sollte BVP- und Zentrumsbelange vor SA-Attacken schützen. Angesichts der Radikalisierung und der bürgerkriegsähnlichen Zustände ein verständliches, wenngleich vergebliches Unterfangen. Ende Juli 1932 überflügelten die Nationalsozialisten die SPD um 106 Stimmen. Bellheims neue zweitstärkste Partei sah im März 1933 manchen ehemaligen BVP/Zentrums- und SPD-Anhänger in ihren Reihen, vor allem aber Erst- und frühere Nichtwähler. Umgekehrt hatten sich zwei Drittel der Einheimischen gegen die NSDAP entschieden. Im totalitären NS-Staat spielte das jedoch keine Rolle mehr, ebenso wenig wie das demokratische Verhältniswahlrecht. Dessen Stunde schlug erst wieder 1946/47 – nach gefühlten 1000 „braunen“ Jahren. Lese-Tipp —Der Autor hat Bellheims Staatswahl-Ergebnisse detailliert dargestellt: „Politik und Wahlverhalten in den Gemeinden des Bezirksamts Germersheim. Die Landtags-, Reichstags-, Reichspräsidentenwahlen und Volksentscheide von 1919 bis 1933“, in: Schriftenreihe zur Geschichte des Landkreises Germersheim, Bd. 4 (N.F.), Germersheim 2016, 276 Seiten, 19,80 Euro. —Bestellung: VHS Germersheim, Tel. 07274/53-319 oder email: k.traeber@kreis-germersheim.de