Kreis Germersheim Kinder spielen 1931 in den Straßen Bürgerkrieg

Dienste auch als Wahllokal: Das Stadthaus Germersheim, Marktstraße, in 1920er Jahren.
Dienste auch als Wahllokal: Das Stadthaus Germersheim, Marktstraße, in 1920er Jahren.

«Germersheim.» Der Deutsche Bundestag fußt auf der allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Verhältniswahl. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte die deutsche Republik dieses freiheitliche Staatswahlrecht eingeführt. Es prägte auch das politische Gesicht der Amtsstadt Germersheim.

1925 beklagte das städtische Arbeitsamt in Germersheim die „bittere Not und vollständige Verarmung“. Staatliche Finanzhilfe erreichte die Kommune allenfalls tröpfchenweise. Entschieden zu wenig, um die „gebrochene Steuerkraft“ und den „wirtschaftlichen Tiefstand“ zu beheben. Allerdings genug, um Germersheims Ruf als „sterbende Stadt“ zu bestätigen, meinte eine zeitgenössische Denkschrift. Unterdessen schwankten die Wähler zwischen Resignation und Aufbegehren. Diese Befindlichkeit schlug sich im Abschneiden jener 5 (1919) bis 13 (1932) Parteien nieder, die in Germersheim Stimmen errungen hatten. Seit 1919 dominierten die katholisch-konservative Bayerische Volkspartei (BVP) und das Zentrum. Anders als in vielen pfälzischen Gemeinden lag die BVP hier nur wenig vor der „Schwesterpartei“. Bis 1928 gewannen beide etwa die Hälfte der Germersheimer Stimmen. 1930/32 sank ihr Anteil auf knapp 45 Prozent. Ein neuerlicher Rückgang um gut 4 Prozent bedeutete 1933 Platz zwei hinter der NSDAP. Das im Kern intakte katholische Lager bröckelte an den Rändern. Nach Kriegsende streifte die SPD ihr Nischendasein ab. Sie erfuhr „von bürgerlicher Seite Interesse und Sympathie“, stellte der Vorsitzende Adolf Firsching Anfang 1919 fest. 1920 verbuchten die Sozialdemokraten 19,5 Prozent, ein Rekordergebnis. 18,5 Prozent bei der Reichstagswahl im Dezember 1924 markierten jedoch das Ende ihres Höhenflugs, der sie hinter Katholiken und Liberalen zur dritten Kraft gemacht hatte. 1928 setzte der Abschwung ein, den die Wirtschafts- und Staatskrise immens beschleunigte. Er drückte die Partei auf 7,4 Prozent (1933). Zugleich sank ihre Stimmquote unter den Bezirksdurchschnitt. Dafür sorgte auch die erstarkende KPD. Mit maximal 1,3 Prozent war sie vor 1931 politisch randständig. Schließlich gelang es ihr, in die zu zwei Drittel erwerbslose SPD-Klientel einzudringen. Indem sie dieses Protestpotenzial ausschöpften, schlossen die Kommunisten 1932/33 bis auf ein Drittel zur SPD auf. Trotz der relativ stabilen Wählerzahl nahm das sozialistische Lager prozentual ab. Von der steigenden Wahlbeteiligung profitierten andere. Die linksliberalen Deutschdemokraten (DDP) und die Deutsche Volkspartei (DVP) gewannen 1919 jede dritte Stimme. 1920/24 erzielte die DDP noch rund 10, die DVP knapp 20 Prozent. Ihren Niedergang flankierten mehrere kurzlebige kleinere Interessenparteien, darunter die Wirtschaftspartei (1928: 6,7, 1932: 0,2 Prozent). 1928 schrumpfte die DDP/Staatspartei zur Splittergruppe, 1932 auch die DVP und die nationalkonservative Deutschnationale Volkspartei. Alle waren in der Stadt wesentlich stärker vertreten als im Bezirk. Das Gros ihrer Wähler wanderte seit 1928/30 zu den Nationalsozialisten. Zum Durchbruch verhalf der NSDAP die wirtschaftlich trostlose Situation ab dem Herbst 1929. Während der Weltwirtschaftskrise meldete die erst 1927 gegründete „Oberrheinische Schiffswerft Spatz & Co.“ Konkurs an. Im Sommer 1932 musste die Stadt fast jeden fünften Einwohner unterstützen. Das Heer der Langzeitarbeitslosen nebst Familien kostete wöchentlich 2770 Mark. Darum benötigte die zahlungsunfähige Kommune selbst für Suppenküchen Landeshilfe. Den besoldeten Bürgermeister ersetzte ein ehrenamtliches Stadtoberhaupt. Virtuos spielten die Nationalsozialisten auf der Klaviatur von Elend und Verzweiflung: Nach ihrem Erstauftritt als „Völkische“ im Mai 1924 (6,2 Prozent) setzten sie 1928 mit 8,4 Prozent eine erste Marke. 1930 folgte ihnen ein sattes Viertel der Wähler, Ende Juli 1932 gar 39,1 Prozent, mehr als im Bezirk. Wie sehr sie die politische Radikalisierung durch Verhetzung und Verrohung vorangetrieben hatten, bewies der ideologisch aufgeladene Alltag. In „Hitler“ und „Reichsbanner“ geteilte Jungenhorden spielten Anfang 1931 auf den Straßen „Bürgerkrieg“: „Die Hitler sind dabei meistens mit Stecken bewaffnet und siegen immer“, notierte die Tagespresse. Selbstständige riskierten lieber den Verlust von Kunden als ihren NS-Fanatismus zu verleugnen. Besonders wenn es sich um die Reichsflagge handelte, das von der Rechten geschmähte Symbol der Republik. Zur Feier des Abzugs der Franzosen hisste eine 24-jährige Metzgertochter provokativ das „Schwarzweißrot“ des Kaiserreichs: Unter dieser Fahne seien 2 Millionen deutsche Soldaten gefallen, keifte die bekennende „Hitlerianerin“. „Aber unter der schwarz-rot-goldenen sind lauter Vagabunden.“ Strafanträge wegen Verhöhnung der Reichsfarben blieben dank befangener Landauer Staatsanwälte auch künftig folgenlos. Ebenso verpufften die über nationalsozialistische Geschäftsleute verhängten Kaufboykotte der Linksparteien. Eine Geschäftsstelle in der Hauptstraße 138 und ein im Mai 1931 eröffnetes SA-Heim verschaffte der NS-Bewegung militante Dauerpräsenz. Ihre paramilitärischen Übungen fanden im blickgeschützten Umfeld geschleifter Festungswerke statt. Gezieltes Anrempeln oder Willkürakte als „Straßenpolizei“ diente zum Terrorisieren ausgesuchter „Feinde“, ansonsten zum Einschüchtern und Beeindrucken der Öffentlichkeit. Wahlkämpfe zeigten nun „außerordentliche Schärfe“, „Heftigkeit und Leidenschaft“. „Hetz- und Drohreden“ machten den Reichstagswahlkampf im Sommer 1932 „erbitterter als jemals“. Zeitungen berichteten über eine „nicht mehr zu überbietende Propaganda auf den Asphaltstraßen“. Gegenseitiges Bespitzeln durch „Horchposten“ galt auch an der Queich als ein geschätztes Instrument im politischen Kampf. Des Weiteren planmäßig gestreute Gerüchte zur Schädigung des gegnerischen Rufs und publikumsträchtige Klagen vor Gericht. All das gab der Wahlpolemik eine neue Qualität. Und diese überforderte die neue 70-köpfige Germersheimer Pfalzwacht. Sollte sie doch vor allem körperliche Angriffe auf Zentrums-/BVP-Vertreter abwehren. Notverordnungen schränkten im Februar 1933 die Wahlaktivitäten zugunsten der NSDAP ein. Auf dem Kirchenplatz wurde eine KPD-Demonstration vor der Abschlusskundgebung aufgelöst. Mitte März 1933 nahm die NS-Diktatur Gestalt an. Parteien und Verhältniswahlrecht standen vor einem 12-jährigen Aus. Lese-Tipp —Der Autor hat Germersheims Staatswahl-Ergebnisse detailliert dargestellt: „Politik und Wahlverhalten in den Gemeinden des Bezirksamts Germersheim. Die Landtags-, Reichstags-, Reichspräsidentenwahlen und Volksentscheide von 1919 bis 1933“, in: Schriftenreihe zur Geschichte des Landkreises Germersheim, Bd. 4 (N.F.), Germersheim 2016, 276 Seiten, 19,80 Euro. —Bestellung: VHS Germersheim, Tel. 07274/53-319 oder email: k.traeber@kreis-germersheim.de

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