Kreis Germersheim Katholizismus verliert Boden

Ein Wahlplakat der Zentrumspartei zur Reichstagswahl 1932.
Ein Wahlplakat der Zentrumspartei zur Reichstagswahl 1932.

«LINGENFELD.» Im September wird der Bundestag gewählt. Maßgebend ist die allgemeine, gleiche, direkte und geheime Verhältniswahl. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte die deutsche Republik dieses freiheitliche Staatswahlrecht eingeführt. Es prägte auch das politische Gesicht der Gemeinde Lingenfeld.

Mit rund 2260 Einwohnern war Lingenfeld im Juni 1925 eine der größeren Kommunen des Bezirks Germersheim. Die zu über 95 Prozent katholische Bevölkerung lebte hauptsächlich von der Land- und Forstwirtschaft, vom Dorfhandwerk und Kleinhandel. Eine wachsende Zahl von Industriearbeitern pendelte aus, meist nach Ludwigshafen. Verdienst am Ort bot lediglich eine kleine Zündholzfabrik. Bereits im Kaiserreich galt die Gemeinde als Hochburg der katholischen Zentrumspartei. Diese siegte über die Liberalen mit bisweilen erdrückender Mehrheit von 70 bis 90 Prozent. Das Ende 1918 eingeführte Verhältniswahlrecht veränderte auch hier den politischen Rahmen: Vor allem wegen des auf 20 Jahre gesenkten Wahlalters und der erstmals wahlberechtigten Frauen. Anfang 1919 waren 1097 Personen zugelassen, 142 Prozent mehr als 1912. Außerdem verschärfte die Verhältniswahl den Wettbewerb. Bei Landtags- und Reichstagswahlen konkurrierten statt 2 bis 4 nunmehr 5 (1919) bis 13 (1928) Parteien. Zu Beginn der Republik übertraf die hohe lokale Wahlbeteiligung diejenige im Bezirk, Land und Reich. Nachkriegsnot, Inflations- und Separatismuswirren drückten diese aber im Mai 1924 auf knapp 43 Prozent. Trotz erneuten Anstiegs lag die Stimmquote in Lingenfeld seither unter den Vergleichsebenen. Nach wie vor prägte das katholische Milieu die Dorfgesellschaft. Kirchliche Vereine (Arbeiterverein, Jungmännerbund, Frauenbund) und die Autorität des Geistlichen mobilisierten zur Wahl der Zentrums- und Bayerischen Volkspartei (BVP). Ein Zentrums-Ortsverein, geleitet von Hauptlehrer Mayer, entstand deshalb erst Ende der 1920er Jahre. Bis dahin behaupteten beide Parteien die absolute bis Zweidrittel-Mehrheit, obwohl sie 1924/27 pfalzweit eigenständig aufgetreten waren. Gegenüber der zunächst übermächtigen bayerisch-konservativen „Schwesterpartei“ machte das Zentrum rasch Boden gut, blieb jedoch Juniorpartner. Während der Weltwirtschaftskrise brach das katholische Lager 1930 um 18 Prozent ein. 1932/33 erholte es sich leicht und verteidigte seine führende Position. Zur früheren haushohen Dominanz des politischen Katholizismus reichte es jedoch nicht mehr. Keine Rolle spielten die Interessenparteien und Splittergruppen. Auch die Rechts- und Linksliberalen der Deutschen Volkspartei (DVP) und Deutschen Demokratischen Partei (DDP) sanken von 5 bis 8 Prozent (1919/24) auf unbedeutende Werte. Mit 2,8 (1924), dann knapp einem Prozent unterflogen die konservativen Deutschnationalen (DNVP) das politische Radar der Gemeinde. Kontinuierlich verringerte sich das Potenzial der Arbeiterparteien bis 1933. Diese gewannen 1919/24 ein Viertel bis ein Drittel, Mitte der 1920er knapp ein Viertel, seit 1930 maximal 20 Prozent der Stimmen. Noch 1919/20 folgte ein gutes Viertel der Wähler der SPD. Unter dem Schlosser Lorenz Hof zählte der Ortsverein 40 Personen (1921). Parteilokal war die „Krone“. Auch existierte ein Freier Arbeiter-Sportverein. Politisch-ökonomische Turbulenzen ließen den nicht sonderlich aktiven Ortsverein bis 1924 schnell schrumpfen. Häufig klagte Hof über „mangelndes Arbeiten“. Gegen Ende des Jahrzehnts gliederten sich die restlichen Mitglieder der SPD-Germersheim an, wo sie eine selbstständige Sektion bildeten. Als Mitverantwortliche einer heftig umstrittenen Reichspolitik hatten die Sozialdemokraten einen schweren Stand. Davon profitierten die oppositionellen Kommunisten. Ihr lautstark-radikaler Protest erhielt Zugkraft durch Rezession, Massenarbeitslosigkeit und existenzielle Not. Schon 1920 hatten die Unabhängigen Sozialdemokraten 7,4 Prozent erhalten, die aus ihnen hervorgegangene KPD in den beiden Reichstagswahlen 1924 15,8 und 17,5 Prozent. Nur 1928 konnte die SPD ihre linke Nebenbuhlerin um fast 2 Prozent überflügeln. Ansonsten favorisierten die Arbeiter mehrheitlich die KPD, die hier weit über dem Bezirksdurchschnitt lag. Ihr erster Auftritt als „Völkische“ brachte den Nationalsozialisten 6,1 Prozent (Mai 1924) ein. 1928 machten sie 5,3 Prozent zur viertstärksten politischen Kraft im Dorf. Ihre nationalistisch-republikfeindliche Agitation war in der Staats- und Wirtschaftskrise immens erfolgreich: 1930 errang die NSDAP 34,3, in der Landtagswahl 1932 sogar 37,3 Prozent. Mit über einem Drittel der Stimmen belegte sie 1930/33 hinter Zentrum und BVP den zweiten Platz, weit vor den abgeschlagenen sozialistischen Parteien. Von diesen und aus dem katholischen Lager waren Wähler zu den Nationalsozialisten abgewandert. Noch mehr hatte die von Kaufmann Josef Hünerfauth dirigierte NSDAP Erst- und frühere Nichtwähler gewonnen. Seit dem 5. März 1933 musste die NSDAP nicht mehr um Wähler werben. In ihrer Diktatur gab es lediglich Scheinwahlen, sogenannte „Plebiszite“, mit feststehendem Ergebnis. Erst nach dem Zusammenbruch des totalitären NS-Staates erlebte das demokratische Verhältniswahlrecht auch in Lingenfeld sein Comeback. Lese-Tipp —Der Autor hat Lingenfelds Staatswahl-Ergebnisse detailliert dargestellt: „Politik und Wahlverhalten in den Gemeinden des Bezirksamts Germersheim. Die Landtags-, Reichstags-, Reichspräsidentenwahlen und Volksentscheide von 1919 bis 1933“, in: Schriftenreihe zur Geschichte des Landkreises Germersheim, Bd. 4 (N.F.), Germersheim 2016, 276 Seiten, 19,80 Euro. —Bestellung: VHS Germersheim, Tel. 07274/53-319 oder email: k.traeber@kreis-germersheim.de

Gewählt wurde damals im Lingenfelder Rathaus.
Gewählt wurde damals im Lingenfelder Rathaus.
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