Kreis Germersheim „Flugblätter, Plakate und Stimmzettel“
«RÜLZHEIM». Im September wird der Bundestag gewählt. Maßgebend ist die allgemeine, gleiche, direkte und geheime Verhältniswahl. 1918/19 hatte die junge Republik dieses freiheitliche Staatswahlrecht eingeführt. Es prägte auch das politische Gesicht von Rülzheim, im Juni 1925 die drittgrößte Gemeinde des Bezirks Germersheim.
Damals waren 94 Prozent der knapp 3600 Einwohner katholisch, 5,2 Prozent jüdisch. Zur Hälfte lebte die Bevölkerung von der Landwirtschaft (Tabak-/Zuckerrübenanbau) und dem Handwerk. Die übrigen arbeiteten in den örtlichen Zigarrenfabriken oder als selbstständige Kleinhändler. Bereits im Kaiserreich galt das Dorf als Bastion der katholischen Zentrumspartei. Diese erhielt mindestens 80 Prozent der Stimmen. Ende 1918 erweiterte das Verhältniswahlrecht den politischen Rahmen: Es bezog die Frauen ein und senkte das Wahlalter auf 20 Jahre. Anfang 1919 waren in Rülzheim 1879 Personen wahlberechtigt, 139 Prozent mehr als 1912. Gleichzeitig verschärfte sich der Wettbewerb. Bei Landtags-/Reichstagswahlen konkurrierten vor dem Ersten Weltkrieg 2 bis 4 Parteien, nun aber 5 (1919) bis 13 (1928). Die lokale Wahlbeteiligung schwankte zwischen 69 (1920) und 93,8 Prozent (1933). Meist lag sie über dem Durchschnitt von Reich und Land. Darunter blieben lediglich die Wahlgänge 1920 und 1932 (April/November), auf Bezirksebene zusätzlich noch 1932 (Juli) und 1933. Für die hohe Mobilisierung sorgte insbesondere das katholische Milieu. Kirchliche Vereine und der einflussreiche Klerus prägten die Dorfgesellschaft. Davon profitierte das Zentrum und die 1919 abgespaltene Bayerische Volkspartei (BVP). Beide errangen eine Zweidrittel- bis Dreiviertel-Mehrheit, obgleich sie 1924/27 wegen programmatischen Differenzen pfalzweit getrennt auftraten. Die mehr als doppelt so starke agrarkonservative „Schwester“ degradierte das republik-loyale Zentrum zum Juniorpartner. Dem katholischen Block versetzte die schwere Krise des parlamentarisch-demokratischen Staats und der Weltwirtschaft einen herben Schlag. Er schrumpfte im September 1930 auf 54,2 Prozent. Allerdings konnte er die verlorenen 17,2 Prozent bis Frühjahr 1932 durch Gewinne von der SPD, KPD und sogar der NSDAP ausgleichen. Solche Pendelbewegungen belegen die gern bezweifelte grundsätzliche Offenheit historischer Abläufe. Dazu beigetragen hatte auch der 1930 vom Bahnarbeiter Fidel Selinger geführte rührige Zentrumsverein. Trotz der heraufziehenden NS-Diktatur erreichte das katholische Lager 1933 eindrucksvolle 76,3 Prozent. Ganz anders die Liberalen: Der in protestantisch-mittelständischen Kreisen verankerten rechtsliberalen Deutsche Volkspartei (DVP) folgte weniger als ein Prozent der Rülzheimer Wähler. Und selbst das nur zeitweise (1924, 1928-32). Regelmäßig übertroffen wurde die DVP von der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) – eine auf dem Land ungewöhnliche Konstellation: 4,8 bis 8 Prozent (1919-1928) waren Bezirks-Spitzenwerte für die DDP, die sie ihrer jüdischen Klientel verdankte. 1932/33 bekam die in Staatspartei umbenannte DDP nur noch eine Handvoll Stimmen. Ob sich die Juden enthalten oder „taktisch“ für Zentrum/BVP votiert hatten, ist unklar. Die Interessenparteien und Splittergruppen der 1920er Jahre trugen oft klangvolle Namen, fanden am Ort aber keine Resonanz. Nach magerem Debüt (1924: 1,7 Prozent) verschwand die Deutschnationale Volkspartei von der Bühne. Dagegen durfte Bayerns Bauern- und Mittelstandsbund mit 3,6 (1928) beziehungsweise 2,7 Prozent (1932) bescheidene Protesterfolge feiern. Das Potenzial der Arbeiterparteien umfasste rund ein Fünftel der Wähler. Ein Teil gehörte dem hiesigen Arbeitergesangverein an. Der ebenso kurzlebige wie kleine Ortsverein (1928: 9 Mitglieder) spiegelte die schwierige Situation der Sozialdemokraten. 16,1 Prozent (1919) weckten zunächst zwar Hoffnung. Dann begann die Talfahrt, die 1933 bei 4,3 Prozent endete. 1928/30 brachte ihnen ein Zwischenhoch 11,1 und 12,1 Prozent. Dies ging zu Lasten der Kommunisten und deren Ende 1930 gegründeter Ortszelle. Dennoch war die KPD seit 1924 in 7 von 8 Vergleichen die dominierende Kraft im sozialistischen Lager. Ihr glückten 5 zweistellige Resultate, 1930 sogar 17,1 Prozent. Im Gegensatz zur SPD lag sie stets über dem Bezirksdurchschnitt. Die Wirtschaftskrise verbreitete Massenelend und -arbeitslosigkeit. Das machte die klassenkämpferisch agitierende Partei attraktiv. Vor allem unter den schlecht bezahlten, in prekären Verhältnissen lebenden Rülzheimer Zigarrenarbeitern. Abgeschreckt von der beitragspflichtigen, öffentlich wahrnehmbaren Parteimitgliedschaft bevorzugten viele die wohlfeil-geheime Stimmabgabe in der Wahlkabine, auch wegen des politischen Klimas im Dorf. Wie die Katholiken und Liberalen boten die Sozialisten ein gespaltenes Bild. Daraus konnten die um den Kleinhändler gescharrten Nationalsozialisten lange keinen Vorteil ziehen: 1928 erhielten sie gerade 16 Stimmen (0,9 Prozent). Erst die Staats- und Wirtschaftskrise steigerte die Wirkung der geschickt inszenierten NS-Propaganda. 1930 gewann die NSDAP aus dem Stand das Vierzehnfache ihrer bisherigen Stimmen. Von 10,6 verlor sie 1932 dreieinhalb Prozent, legte aber 1933 nach massiver staatlicher Begünstigung auf 9,8 Prozent zu. An zweiter Position, nur ein Prozent vor der KPD, hatte sie ihren Führungsanspruch in Rülzheim klar verfehlt. Dort hatte das Verhältniswahlrecht die Parteienlandschaft aufgelockert und die Wählermobilität belebt. Die politischen Konstellationen blieben jedoch im Wesentlichen dieselben. Unter der NS-Diktatur sollte sich das schnell ändern. Lese-Tipp Der Autor hat Rülzheims Staatswahl-Ergebnisse detailliert dargestellt: „Politik und Wahlverhalten in den Gemeinden des Bezirksamts Germersheim. Die Landtags-, Reichstags-, Reichspräsidentenwahlen und Volksentscheide von 1919 bis 1933“, in: Schriftenreihe zur Geschichte des Landkreises Germersheim, Bd. 4 (N.F.), Germersheim 2016, 276 Seiten, 19,80 Euro. Bestellung: VHS Germersheim, Tel. 07274/53-319 oder email: k.traeber@kreis-germersheim.de .