Donnersbergkreis Zwischen Dativ und Zahnfee

Jetzt wird es kniffelig: Die Klasse 4 von Heike Stilgenbauer muss ein Mathe-Rätsel lösen. Zuvor durften sich die Kinder aber im
Jetzt wird es kniffelig: Die Klasse 4 von Heike Stilgenbauer muss ein Mathe-Rätsel lösen. Zuvor durften sich die Kinder aber im Hof austoben und beim Pausenbrot stärken.

Schönschreiben liegt Tim nicht. Die Buchstaben sehen ein wenig gequält aus, und er auch. Vor lauter Konzentration auf die Finger bleibt kaum noch genügend Energie, um den richtigen Fall herauszufinden – den Kasus, wie der Fachbegriff heißt. „Wem folgen die Bienen?“ „Der Königin“ – also Dativ. Bei Jonas sieht das anders aus, er ist der Kalligraph der Klasse. Seine Buchstaben sind gemalt, allerdings braucht er auch ganz schön lange dafür. „Ja, sehr schön“, wird er gelobt, „und das Ganze geht sicher auch noch etwas zügiger“, sagt Klassenlehrerin Heike Stilgenbauer. Doch Jonas hat plötzlich ganz andere Probleme, sein Backenzahn ist rausgefallen. Mit Hilfe der Klassenlehrerin wird das gute Stück verpackt, die Zahnfee braucht schließlich Beweise – und die „Iiiiiihh, da ist ja Blut“-Spuren beseitigt. Anschließend noch Hände waschen. Zwischenzeitlich sind einige Dativ-Kandidaten mit ihren Aufgaben durch und warten auf neue Herausforderungen. „Frau Stilgenbauer“, tönt es im Zehn-Sekunden-Takt. Heute hat sie es gut, eine Praktikantin und eine Referendarin sind als Verstärkung in der Klasse. Von Gemütlichkeit trotzdem keine Spur. Am Mädchentisch läuft alles rund. „Wir sind alle Freundinnen“, heißt es da. Dass das so bleibt, erfordert auch bisweilen die glättende Ansage der Klassenlehrerin. „Die Kinder sind sehr unterschiedlich in dem, was sie mitbringen, wie weit sie in ihrer Entwicklung sind, da bleiben Konflikte nicht aus“, so Stilgenbauer. Doch die Grundschule am Königspfad in Göllheim ist keine Problemschule. Kein sozialer Brennpunkt, kein ungewöhnlich hoher Anteil an Kindern mit anderen Muttersprachen, wenig Kinder mit Kriegstraumata. „Wir erleben hier das, was sich unter dem Begriff ,veränderte Kindheit’ verbirgt“, sagt Alexandra Hovestadt. Sie ist als Förderschullehrerin als Verstärkung des Teams angestellt und kümmert sich schwerpunktmäßig um die Sprachförderung. „Und ich bin absolut ausgelastet“, sagt sie. Lese- und Rechtschreibschwäche seien heute keine Ausnahmen. In Klasse vier geht es derweil weiter. Nach einem kurzen Abgleich, wer, wo, wie viele Zahnlücken hat, wenden sich die meisten wieder den Fällen zu, andere machen eine kurze Traumpause oder spitzen ihre Stifte. Samuel weint wieder. Er vermisst seinen Vater, die Eltern haben sich getrennt, und er darf den Vater nicht sehen. Und Kevin hat sich in der Pause verletzt, ein Kühlpad muss her. Heike Stilgenbauer versorgt Trennungsschmerz und Kniewunde, dann kann es weitergehen. Jetzt ist ein kniffeliges Matherätsel dran, und während Jonas sich voller Eifer über sein Schmierblatt beugt und die Lösung scheinbar vor Augen hat, sortiert Kai erst mal sein Mäppchen. In der ersten Klasse ist derweil Puzzeln angesagt. An der Tafel hat Chantal Curkovic Kärtchen angebracht. Was ist der Unterschied zwischen zwei und zweitens? Leon weiß es. „Sehr schön Leon, Finger aus der Nase und dann erklär mal, bitte.“ Es klappt. Beides. Der Übergang von der Kita zur Schule sei nicht für jeden leicht zu meistern, so die Lehrerin. Dass – diese Erfahrung teilt sie mit ihren Kolleginnen – gerade in puncto Selbstständigkeit oft ein großes Defizit herrsche, komme nicht von ungefähr. „Viele Eltern meinen es zu gut. Sie bringen ihre Kinder jeden Morgen in den Klassensaal und richten daheim den Ranzen.“ Und wenn Material fehlt, heißt es, „das hat die Mama vergessen“. Das Problem der überfürsorglichen Eltern kennen natürlich auch andere Grundschulen. In manchen wurden bereits Schilder aufgestellt mit der Aufschrift: „Ab hier schaffe ich es alleine“, um die Eltern auszubremsen. Doch das möchte Schulleiterin Heike Wadehn vermeiden. „Ich appelliere da immer noch an die Einsicht der Eltern“, sagt sie. Zumal das ständige Kümmern um Kleinigkeiten manchmal dazu führt, dass wirklich wichtige Informationen untergehen könnten. „Mir hat beispielsweise heute Morgen ein Vater sozusagen im Vorbeigehen erklärt, dass bei seiner Tochter eine chronische Erkrankung festgestellt wurde, und sie von nun an dringend auf Medikamente angewiesen ist“, erzählt Curkovic. Das Kind hatte zuvor wochenlang gefehlt und wurde stationär versorgt. „Ich bin seit zwanzig Jahren Schulleiterin, und in dieser Zeit hat sich einiges verändert“, führt Wadehn aus. Was für ihr Kind gut und richtig sei, davon hätten Eltern heute nicht nur sehr genaue, sondern auch sehr unterschiedliche Vorstellungen. Auf der einen Seite stünden die, die am liebsten mit ihrem Kind im Unterricht bleiben würden. Auf der anderen Seite die, die ihre Kinder weitgehend sich selbst überließen und auch nach mehrmaliger Aufforderung nicht zu einem Gespräch zu bewegen seien. Zudem gebe es immer mehr Kinder, die gesundheitlich belastet seien. „Die Zusammenarbeit mit dem Pfalzklinikum oder der Rheinhessen Fachklinik war früher die Ausnahme, heute ist es ganz normal“, sagt sie. Auch Gespräche mit psychisch belasteten Eltern seien keine Besonderheit mehr. „Es kommt vor, dass sich Eltern bei uns stundenlang ihr Herz ausschütten, beispielsweise über ihre Trennung“, erzählt Andrea Zurowski. Andere ließen die Lehrerinnen von einschneidenden Erlebnissen nichts wissen, bedauert sie. Dann sei es natürlich schwer, auf die Kinder angemessen einzugehen. Auch in der Streitschlichter-AG machen Eltern manchmal einen Strich durch die Rechnung. Andrea Zurowski ist als Sozialpädagogin Verstärkung des Lehrerteams und leitet die AG. Die Kinder sind mit großem Eifer dabei, wenn es gilt, Streithähne auseinander zu bringen. Zuhören, ausreden lassen, Ich-Botschaften senden – die kleinen Schlichter haben schon einiges gelernt und geübt. Doch: „Ich bekomme durchaus Anrufe von erzürnten Eltern, die der Meinung sind: ,Mein Kind macht sowas nicht und muss deshalb auch nicht an einer Streitschlichtung teilnehmen’“, erzählt sie. Dass man den Kindern auch mal unangenehme Situationen zumuten müsse, das sei keineswegs die Haltung aller Eltern. „Doch parallel dazu steigen ständig die Ansprüche an die Kinder“, so die Erfahrung von Stilgenbauer. Alle sollen super Schüler sein, auf jeden Falls aufs Gymnasium, und das alles mit jeder Menge Spaß und selbstverständlich ohne Druck. Die Entlastung der Kinder gehe bisweilen so weit, dass die nicht einmal selbst die verschluderten Hausschuhe suchen müssen. Entweder die Eltern kommen mit und übernehmen das, oder es gibt ein Briefchen an die Lehrerin mit der Aufforderung, die Schuhe doch bitte zu suchen. Auch Zurowski hat den Wandel erlebt: „Früher hatten wir vier bis fünf Kinder in einer Klasse, die einen problematischen Hintergrund hatten, heute ist die Mehrheit in irgendeiner Weise belastet.“ Der Nachmittag einer Lehrerin oder einer Sozialpädagogin bestehe fast im Regelfall aus Gesprächen mit Eltern, dem Jugendamt oder Therapeuten. Erst dann könne man sich an die Unterrichtsvorbereitung machen. „Eine Menge Kinder bekommen heute Ergotherapie oder Logopädie, und auch dafür müssen wir Gutachten erstellen und mit den Therapeuten und Eltern sprechen. Das war früher eine Ausnahme.“ Was alle Frauen hier – das Göllheimer Kollegium ist völlig männerfrei - immer wieder ärgert, ist, dass trotz dieser Aufgabenvielfalt nach wie vor die Grundschullehrer eine Stufe tiefer angesiedelt seien als die der weiterführenden Schulen. Und diese fehlende Wertschätzung schlage sich auch in der Bezahlung nieder. „Wenn ich es noch mal tun müsste, dann würde ich wieder diesen Beruf wählen“, sagt Hovestadt. Und ihre Kolleginnen stimmen zu. Doch die vorherrschende öffentliche Meinung, dass der Beruf aus Spielen und jeder Menge Ferien und Freizeit bestehe, sei absolut nicht zutreffend. „Viele Kinder haben heute ein ,Päckchen’ zu tragen“, so Stilgenbauer. Und so bleibe den Lehrerinnen am Ende des Tages oft das Gefühl, trotz aller Anstrengung nicht allen gerecht zu werden.

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