Karlsruhe „Das war High-Tech der Steinzeit“

Faszination für die Jungsteinzeit: Anne Reichert mit „Ötzis“ nachgebildetem Schuhwerk aus Lindenbast. Auch die Dolchscheide des
Faszination für die Jungsteinzeit: Anne Reichert mit »Ötzis« nachgebildetem Schuhwerk aus Lindenbast. Auch die Dolchscheide des Gletschermanns hat sie rekonstruiert.

«Ettlingen.» Die Faszination ist Anne Reichert deutlich anzumerken, wenn sie über die Jungsteinzeit spricht. Die Frau aus Ettlingen ist Experimentalarchäologin mit Leib und Seele. Das heißt, sie rekonstruiert Utensilien und Kleidung der Zeit von 5500 bis 2000 v. Chr. – und dies äußerst akribisch. Anhand von Funden versucht sie, vorgeschichtliche Techniken nachzuvollziehen, Artefakte zu rekonstruieren und zu testen, um dadurch Erkenntnisse über die einstigen Lebensumstände zu gewinnen. Sandalen aus Lindenbast, Gefäße aus Birkenrinde oder Gürteltaschen aus Leder stellt sie nach Funden – vornehmlich vom Bodenseeraum und der Schweiz – in mühsamer Kleinarbeit her. Das Flechten von Körben brachte sie sich ebenso bei wie das Brennen von Keramik am offenen Feuer oder die Einarbeitung in die Thematik Kräuterheilkunde. „Ich möchte einfach wissen, wie es früher war, und wie die Menschen damals überlebt haben. Dabei gilt vor allem eines: Wir können nie sagen ,So war es’. Sondern lediglich: ,So könnte es gewesen sein’. Aber wir können durch das Experiment dazu beitragen, Geschichte anschaulicher und begreifbar zu machen“, betont die Archäologin, die für Museen in Deutschland, der Schweiz und Italien arbeitet. Auch bei Grabungen in Herxheim oder gar der britischen Kultstätte Stonehenge war sie bereits aktiv. Die Dienste von Anne Reichert hatte sich auch die SWR-Doku-Serie „Steinzeit – das Experiment“ gesichert. Die Ettlingerin stand als Beraterin und Steinzeit-Expertin zur Seite. Vor allem mit einer Thematik hat sich die 80-Jährige stark auseinandergesetzt: der Gletschermumie „Ötzi“. „Keine Frage, das spektakuläre Auffinden der Mumie, die mehr als 5000 Jahre alt ist, hat der Archäologie ganz neue Einblicke in die Welt der Jungsteinzeit gegeben. Ötzi hat alle elektrisiert, die sich irgendwie für Archäologie interessieren. Mich natürlich eingeschlossen.“ Unter anderem hat Anne Reichert die Dolchscheide des berühmten Gletschermannes, der 1991 in den Ötztaler Alpen geborgen wurde, rekonstruiert. Auch das Schuhwerk hat die agile Seniorin damals für die SWR-Dokumentation nachgefertigt. „Man kann es nicht anders sagen. Das war High-Tech der Steinzeit. Die Schuhe hatten eine Fütterung wie wir sie heute nutzen, sie waren dreilagig aufgebaut. Das Isoliermaterial aus Gras wurde von einem Innengeflecht aus Lindenbast zusammen gehalten. Das Oberleder war aus Hirschfell, die Sohle aus Bärenfell. Man kann da einfach nur Hochachtung haben“, sagt die anerkannte Spezialistin für Nachbildungen aus Fasern, Rinde, Leder, Fell und Lehm, während sie die die nachgemachten „Ötzi-Schuhe“ in ihrer hauseigenen Werkstatt in Händen hält. Mit Schuhwerk der Steinzeit hat sich die gebürtige Westpreußin, die bereits seit 1971 im Karlsruher Nachbarort lebt, schon seit jeher beschäftigt. „Es ist einfach hoch interessant. Wie läuft es sich beispielsweise auf Einlegesohlen aus Moos? Wie wurden Sandalen aus Lindenbast geflochten“, fügt Anne Reichert hinzu, die die Ergebnisse dann auch selbst ausprobiert und dann naturgemäß über längere Zeiträume auf „Ötzis Spuren“ wandelt. Die Thematik hat die experimentierfreudige Archäologin so gepackt, dass sie längst ihr Wissen via Vorträge über die Gletschermumie weitergibt. In der Lehrerfortbildung ist sie beispielsweise unter dem Slogan „Steinzeit zum Anfassen“ aktiv. Auch an das Schweizer Fernsehen gibt sie ihre Kenntnisse über die Steinzeit und die Fertigkeiten der Menschen von damals weiter.

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