Kaiserslautern Video killt Puccini

Frenetischer Applaus und Bravos für Sänger und Orchester, enorme Buhrufe fürs Regieteam. Das Premieren-Publikum in Giacomo Puccinis „La Bohème“ am Badischen Staatstheater Karlsruhe spendierte am Samstag war sich einig. Schade, dass Regisseurin Anna Bergmann ihre spannende Lesart des Werks nicht vermitteln kann. Allzu kompliziert ist die Mischung aus Schauspiel, Video und den ergreifenden Melodien.

Es ist kalt in Puccinins Paris des 19. Jahrhunderts: draußen Schnee, in der Künstlerwohnung wärmt nur ein Feuer aus Fetzen. Im New York des 21. Jahrhunderts scheint es noch frostiger zu sein. Zumindest im Central Park, den Regisseurin Anna Bergmann auf die Bühne ins Badische Staatstheater Karlsruhe verlegt. „Mir ist so kalt“ sagt Mimì zu Beginn des vierten Bildes, und: „Liebe ist nur die Spitze eines Eisbergs, der sich mit kalter Wut ins Herz bohrt.“ Worte, die im Libretto zu Puccinis Oper nicht vorkommen und in die Karlsruher Neuinszenierung als Sprecheinlage zusätzlich eingebaut wurden (Text: Constantin von Castenstein). Einem Teil des Premierenpublikums widerstrebt es sicht- und hörbar, dass sich eine Regisseurin hier textlich am Original vergreift. Allerdings ist dieser Einschub gelungen und notwendig, um etwas Licht ins Verständnis-Dunkel der vorangegangenen drei Bilder zu bringen. Die verarmte, kranke Mimì steht in Karlsruhe gleich doppelt auf der Bühne. Während Barbara Dobrzanska die Rolle singt, mimt Schauspielerin Jana Schulz in gleicher äußerlicher Aufmachung eine heruntergekommene, seelisch zerstörte Frau, die nach Rodolfo als letztem rettenden Halm greift, sich sonst aber in Mülleimern wühlend und einem alten Chrysler nächtigend über die Runden bringt. Beide Mimìs sind Kettenraucher, was sich für eine schwer Lungenkranke nicht unbedingt empfiehlt. Diese Frau ist eben tief verzweifelt. Ausgangsidee zur Doppelbesetzung scheint eine kurze Textzeile aus der Oper zu sein, ein oft überhörter kleiner Nebensatz. In der rührenden Arie „Mi chiamano Mimì“ heißt es weiter „ma il mio nome è Lucia“. Die allen als Mimì bekannte Frau ist also eigentlich eine Andere, in der Realität, im harten Leben. Mimì ist nur das träumende Abbild, das sich eine bessere Zukunft erhofft. Über die Bühnenwand flimmern ihre biografischen Schlaglichter (Video: Sebastian Pircher). Das was Anna Bergmann da vorgibt ist ein bisschen viel Neu-Interpretation auf einmal und oft nur schwierig zu verstehen. Erwartet man doch bei „La Bohème“ eher leichte, schnee-beflockte Liebestragik mit ganz viel schöner Musik fürs Herz. Schöne Musik gibt es dann auch reichlich. Sängerische Glanzpunkte des Abends sind die beiden umfangreichsten Männerparts Rodolfo und Marcello. Seung-Gi Jung lässt als Marcello seine Bariton-Stimme in der tiefen Lage klanglich zum volltönenden Bass werden. Schauspielerisch gibt sich das ganze Künstlerquartett überzeugend (Andrew Finden als Schaunard und Konstantin Gorny als Colline). Wegen einer Erkältung – die man ihm aber nicht anmerkt – singt im vierten Bild Avtandil Kaspeli als Zweitbesetzung den Colline von der Bühnenseite aus ein. Andrea Shin zeigt als Rodolfo, wie sich eine starke Stimme noch weiter steigern kann: ein herrlicher Höhepunkt in seiner Arie „Che gelida manina“. An anderer Stelle klingt er überzeugend brüchiger und verzweifelt. Sein Timbre passt zur ebenfalls klaren und kräftigen Stimmfarbe von Barbara Dobrzanska als Mimì. Ina Schlingensiepen spielt die Musetta wunderbar hysterisch und gleichzeitig verführerisch, was sich auch im Gesang widerspiegelt. Ein Höhepunkt aller Puccini-Opern ist die Instrumentierung. Wie der Komponist mit einem einzigen Triangel-Schlag ganze Harmonien kippt, scheinbar eingängig-kitschige Melodien rund und interessant gestaltet, ist immer wieder ein Hörgenuss. Die Badische Staatskapelle geht den Orchesterpart unter der Leitung von Johannes Willig durchgängig flott an, liefert ein stimmiges Gesamt-Klangbild (ebenso der Chor im zweiten Bild, Leitung: Ulrich Wagner) mit einem wunderbar zarten Schluss, während Mimì auf der Parkbank mitten in New York stirbt. Stichwort Central Park: Bühnenbildner Ben Baur und Claudia González Espíndola (Kostüme) kann nicht nur beeindruckende Konsequenz sondern auch gelungener Einfallsreichtum attestiert werden. Dass der Kinderchor im zweiten Bild als quietsch-rosa Plüsch-Eichhörnchen durchs Bild wuselt ist zwar hart an der Grenze des guten Geschmacks, passt aber bestens in das zuckrig-klebrige, immer dick aufgetragene Amerika-Bild, das die Inszenierung zeichnet. Natürlich wird da Cola getrunken, Verkäufer Parpignol (Max Friedrich Schäffer) könnte locker als Animateur im Cluburlaub durchgehen. Am Ende ist sich das Publikum weitgehend einig: Musikalisch gerne wieder, die Inszenierung selbst ist jedoch an vielen Stellen zu ambitioniert.

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