Kaiserslautern Tragik in Futur zwei

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Ein bedrückendes Buch, geschrieben aus der Distanz eines 14/15-Jährigen, tragisch-komisch, erste Person Präsens. Ein literarisches Road-Movie. Der Entwicklungsroman eines Kindes mit Kriminalhintergrund, dessen Vater, ein Hochstapler, Schwadroneur und Betrüger, die Familie in seinen Abgrund reißt. In Teilen ein Heimatroman auch über Kaiserslautern ist „So, und jetzt kommst du“. Eine reale Geschichte aus den beginnenden 1980er Jahren. Arno Franks Romandebüt ist autobiografisch.

Letzte Worte: „Alles ist gut“. Glatt gelogen. Erster Satz: „Als meine Mutter zum ersten Mal starb, war ich bei ihr.“ Und auch er klingt ja fragwürdig. Die  Unwahrheit, Lebenslügen, der Betrug als Geschäftsgrundlage einer Luftschloss-Ich-AG, Kinder haften für ihre Eltern, das sind die Beweggründe dieser Abenteuergeschichte einer seelischen Misshandlung, den dieses Buch auch darstellt. Und das klingt jetzt sehr viel düsterer, als der Ich-Erzähler die Story schildert, für die sich auch Interpol interessiert. Im wahrhaftigen Uneigentlichkeitston eines pubertierenden naiv-schlauen Kindes überwiegend, das sich seine Welt locker-flockig halbschön redet, um eine Verzweiflung, von der es noch nichts wissen kann, nicht zulassen zu müssen. Tragik im Futur zwei. Man schmunzelt mit bösen Vorahnungen beim Lesen. „Jeder bekommt eine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter.“ Arno Frank, ein 1971 geborener Kaiserslauterer, der als Journalist für die „Zeit“, die „taz“, den „Spiegel“ oder „Musikexpress“ arbeitet und mit seiner Familie in Wiesbaden lebt, zitiert eingangs den österreichischen Schriftsteller Heimito von Doderer. Er selbst ist ein gebranntes Kind. Gerahmt ist sein Roman von zwei kurzen Erzählungen. Wie der Ich-Erzähler als Kleinkind seiner bereits bewusstlosen Mutter unbewusst das Leben rettet. Seine erste bleibende Erinnerung überhaupt. Und wie er Jutta, so heißt sie, jetzt als erwachsener Mann, ein letztes Mal besucht. Am Sterbebett, „als sie zum zweiten Mal starb“. „Ich  habe“, sagt sie über ihren verhängnisvollen Mann, „gesehen. Wie er sein wollte. Nicht, wie er wirklich war. Ich habe ihn geliebt.“ Und weiter heißt es: „Ich nickte. ,Es ist, wie es ist.’ Sie hob die Hand und berührte mich am Ohrläppchen. ,Mein Großer’“. Familienaufstellung also, der Vater „die geologische Gegebenheit“, die Mutter „die Vegetation auf diesem Gebirge“. Der Ich-Erzähler, noch grün hinter den Ohren, laboriert im halbwissenden Stadium zwischen Kind und Mann an den Verhältnissen und Loyalitäten. Zur Familie gehören noch die kleine Schwester Jenny. Und der jüngste Bruder, ein Nachzügler. Vielsagend trägt er die meiste Zeit Schwimmflügel, während sie alle untergehen. Am Anfang bewegt sich die sich nach und nach vergrößernde Familie in einem Sonnensystem um den „größten Planeten“ Kaiserslautern. Im Lärchenweg, in Hohenecken, in Sembach, lauten die Kapitelüberschriften. Arno Frank lokalkoloriert sein Heimspiel in der „grünen Galaxy“ des Pfälzerwalds. Er kann wirklich sehr gut schreiben, rhythmisch und mit einem schönen Sound, auch wenn des Öfteren die Stringenz der Erzählhaltung flöten geht. US-Militär-Transportflugzeuge senken ihren „atlantikgrauen Leib mit den hängenden Schwingen aus den Wolken“ und verziehen sich mit ihrer „Lärmschleppe“ nach Westen. Auf dem Betze brodelt es „vulkanisch“, wenn der FCK gegen den BVB antritt. Pizza wird im „Stolpereck“ serviert. Der Opa hat auf dem Küchentisch die RHEINPFALZ aufgeschlagen. Der Vater, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, ist erst im Depot bei der US-Army beschäftigt. Ein vorgeblich weltgescheiter Hallodri und Durchblicker vor dem Herrn, übersteigerte Selbsteinschätzung treibt ihn an. Er intendiert perplexe Fraglosigkeit, deshalb setzt er auch die titelgebende Phrase „So, und jetzt kommst du“ immer wieder ein. Mehr lebt er in selbst entworfenen Möglichkeitsräumen – in der Zukunft –, als in der jeweils gegenwärtigen Realität. Und die Familie zwangsweise mit. Nach und nach setzt er so nach der Kündigung bei den Amis Geschäftsideen in den Sand. Ein Business mit Heimtrainern unter anderem. Eines Tages, als der Vater sich auf einem der Trimm-Dinger abstrampelt, gerät dem Ich-Erzähler, damals ein Kindergartenkind, eine Hand in die Speichen. Sie verkrüppelt. Bei dieser Deformation durch einen, der ausschließlich in seiner Spur unterwegs ist, bleibt es indes nicht. Die Familie verliert ihr Eigenheim und muss öfter umziehen. Zu Hause stapelt sich die Post vom Amtsgericht. Als der Erzähler aufs Kaiserslauterer Albert-Schweitzer-Gymnasium wechselt, leben sie zu viert schon so weit weg in der Peripherie, dass er mit dem Postbus pendeln muss. Mit einem „luftdichten Space-Shuttle“, das die „Jugend von fernen Trabanten“ einsammelt, wie der Ich-Erzähler fantasiert. Fast eine Stunde ist er durch den Wald unterwegs. Der Vater hat inzwischen seine Berufung als Autoverkäufer gefunden. Bei „Wuttke“ vertickt er Gebrauchtwagen, ideal für eine Blendernatur wie ihn. Ab und an darf er einen fetten BMW mit nach Hause nehmen. Ein Gefährt, das seiner Anspruchshaltung vollends entspricht. Transportmittel sind in diesem Roman überhaupt von großer Präsenz. „Ein Talbot möchte ich jedenfalls nicht sein“, sagt der Vater seinem Sohn einmal. Wie reich genau sie „in Bälde“ sein würden, davon erzählt die Zeitschrift „Yacht“, die sich eines Tages im Stapel auf dem Klo findet, neben der „Auto, Motor & Sport“, ein Segelmagazin. Einen Fuhrpark bewegt Arno Frank durch das Buch, um die Verhältnisse und Seelenzustände zu transportieren. Zum Schluss nimmt die Familie einfach die nächste S-Bahn. Den letzten Fluchtweg gehen sie dann per pedes. Aufgebrochen sind sie mitten in der Nacht noch im Benz. Der Vater hat angeblich endlich das Geschäft seines Lebens gemacht, in Wahrheit aber 300.000 Mark für ein Autogeschäft unterschlagen. Riviera, Golf Juan oder Mougins lauten jetzt die Kapitelüberschriften. Vater fährt einen Renault Alpine, einen straßentauglichen Rennwagen. Die Familie hat an der Cote d’Azur ein Haus mit Pool, bis das Geld alle ist und die Polizei an der Haustür klingelt. Und plötzlich ist die Familie als Mitfahrer in der Schrottkarre eines portugiesischen Bauarbeiters wieder unterwegs. In einem Hotel in Lissabon gestrandet, setzt dann im Namen des Vater Verwahrlosung ein. Tochter Jenny klaut im Auftrag. Der Kleinste spielt mangels Alternativen mit Wollmäusen. Und der Große bekommt zum Geburtstag ein Snickers geschenkt. „Weihnachten und Neujahr kommen und gehen so unmerklich wie eine Bodenwelle beim Autofahren.“ Im einem klapprigen Ford Escort wird eines Nachts die Heimreise angetreten, natürlich, ohne die Hotelrechnung zu bezahlen. In Kaiserslautern verpfeift die Schwiegermutter sie kurzerhand an die Polizei. Sie fliehen erneut und tauchen bei einem Kumpel des Vaters in München unter, bis der sie rauswirft. Es habe, heißt es eindringlich, dort eine Stimmung geherrscht, „als würden wir alle langsam in Klarsichtfolie eingewickelt, Schicht um Schicht.“ „Hilfe“ hat Jenny auf die Rückseite eines Motorradbildes geschrieben, das sie, ein kleines Mädchen, an der Rezeption ihrer allerletzten Zuflucht hinterlässt, einem Fremdenzimmer. Der Roman ist und erzählt so etwas wie eine Rettung. Einen „glücklichen Schiffbruch“, bei dem der Ich-Erzähler zum Schluss doch noch Oberwasser behält. Nach der Festnahme des Vaters geht er wieder in Kaiserslautern auf seine alte Schule. „Ich war jetzt der Junge, von dem alle wussten, dass mit ihm etwas nicht stimmte“, sagt er von sich. In den Pausen blickt er in den einsehbaren Hof des Gefängnisses, in dem sein Vater einsitzt. Der taucht dann zum Glück nie wieder auf. Der Ich-Erzähler hat so die Verfügungsgewalt über seine Geschichte wieder erlangt: Er könne, heißt es, sich seinen Vater jetzt im Nieselregen vor einer Trinkhalle in Pirmasens vorstellen, schwafelnd. Oder unter einem Sonnensegel in Saint-Tropez. „Ich kann“, heißt es abschließend, „mit ihm machen, was ich will.“ Der Rest aber ist Literatur. Lesezeichen und Lesung —Arno Frank: „So, und jetzt kommst du“; Roman; Tropen, Stuttgart; 352 Seiten; 22 Euro. —Arno Frank liest aus dem Roman am Dienstag, 14. März, um 19.30 Uhr bei Thalia in Kaiserslautern.

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