Kaiserslautern Tod und Auferstehung
„100 Jahre, 100 Sinfonien“ ist der Titel unserer Serie, in der wir 100 sinfonische Werke vorstellen, die zwischen 1800 und 1900 entstanden. Kurz vor dem Ende, genauer gesagt im Jahr 1895, erklimmt die Gattung nochmals einen Gipfel: In Berlin wird Gustav Mahlers zweite Sinfonie, die sogenannte „Auferstehungssinfonie“, uraufgeführt.
Lied und Sinfonie. Sonst ist da ja nichts bei Gustav Mahler. Keine Kammermusik, keine Klaviermusik, vor allem keine Oper. Und doch ist alles da. Ein ganzer Kosmos, eine ganze Welt – zusammengedrängt in einer einzigen Sinfonie. In jeder einzelnen Sinfonie, müsste es eigentlich heißen. Mahlers Sinfonik treibt die Gattung auf einen Höhepunkt, einen Gipfel. Nach Mahler konnte die Sinfonie schlichtweg nicht weitermachen wie zuvor. Seine Sinfonien sind auch ein Wendepunkt, der einen Neuanfang notwendig machte. Größer, länger, das war ja nicht möglich. Die Nachfolger, allen voran die Zwölftöner um Arnold Schönberg, mussten gleichsam wieder bei Null beginnen. Mahler konnte noch aus dem Vollen schöpfen. Aber er mühte sich lange mit seiner Zweiten. Es ist ein jahrelanger Entstehungsprozess, welcher der Sinfonie vorausgeht, ehe sie endlich im März 1895 uraufgeführt werden konnte. Für Mahler selbst war sie ein Durchbruch. Für seine Zeitgenossen eine Herausforderung, vielleicht sogar eine Zumutung. Für uns heute zählt sie zu den Ausnahmewerken in der Geschichte der Sinfonie. Aber ist das überhaupt noch eine Sinfonie, was wir da hören? Die Fünfsätzigkeit widerspricht ebenso dem klassischen Formmodell wie der Einsatz der menschlichen Stimme. Während er in seinem sinfonischen Erstling lediglich Volksliedmelodien einbaute, kommt nun einerseits ein Lied aus der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ als vierter Satz zum Einsatz, andererseits ist der zweite Teil des Finales eher eine Kantate. Und selbstverständlich wusste Mahler, an welches Vorbild diese Struktur erinnerte: an Beethoven und dessen grandiose neunte Sinfonie. „Wenn ich ein großes musikalisches Gebilde konzipiere, so komme ich immer an den Punkt, wo ich mir das Wort als Träger meiner musikalischen Idee heranziehen muss. So ähnlich muss es Beethoven bei seiner IX. gegangen sein“, schreibt Mahler 1897 in einem Brief. Seine Zweite trifft einen im ersten Satz wie ein Peitschenhieb, wie ein elektrischer Schlag. Hier bricht sich eine existenzielle Urgewalt Bahn, die tiefen Streicher schreien ihren Schmerz geradezu heraus. Wir werden das später, nach fast 50 Minuten, die alleine die ersten vier Sätze dauern, nochmals erleben – mit dem Beginn des Finales, das mit rund 35 Minuten fast so lange ist wie eine Sinfonie von Brahms. „Todtenfeier“ ist der programmatische Titel, den Mahler diesem Trauermarsch des ersten Satzes gegeben hat. Er eröffnet die inhaltliche Klammer, welche den gesamten sinfonischen Koloss umfasst, der in dem „Auferstehungs“-Hymnus des Finales mündet. Mahler hatte Klopstocks Gedicht „Die Auferstehung“ für sich entdeckt und mit eigenen Worten für seine Sinfonie eingerichtet. Diese finale Botschaft ist sowohl eine religiös empfundene als auch zeitgeschichtlich zu verstehende. Diese Sinfonie ist ein Kind der Jahrhundertwende, der Décadence, des Fin de Siècle. Und sie ist ein seismographisches Vorwegnehmen kommender Katastrophen, mit denen das 20. Jahrhundert noch aufwarten sollte und die Mahler (1860 bis 1911) nicht mehr miterleben musste. Jeder Auferstehung geht der Untergang, der Tod voraus, und an Untergangsklängen ist diese Komposition wirklich nicht arm. Sie brechen zu Beginn des Finales über dem Hörer zusammen, nachdem der vorangegangene vierte Satz mit dem „Wunderhorn“-Lied „Urlicht“ die vielleicht traurigste Musik des 19. Jahrhunderts geliefert hat. Kein Trost, nirgends, und dann doch Zuversicht, die zumindest der Text – gegen den Duktus der Musik – behauptet: „Der liebe Gott wird mir ein Lichtlein geben/Wird leuchten mir bis an das ewig Leben.“ Das greift dann die lichtdurchflutete Kantate des Finales auf. Mahler und die Musik wissen sich nun gleichsam nicht mehr zu helfen. Sie brauchen die menschliche Stimme, dringend: „O glaube! Du warst nicht umsonst geboren.“