Kaiserslautern Reiz der Überwältigung

Pop-Musik ist für Diedrich Diederichsen mehr als Musik, ist Verheißung, Fetisch, Notwendigkeit. Seit Jahrzehnten schreibt der Wissenschaftler über sein Lebensthema. „Über Pop-Musik“ nun ist die Summe seines Schaffens. Gedacht ist das Buch als Würdigung einer eigenständigen Kulturform, selbst wenn ihr Ende aufscheint. Trotz aller Theorie ist der Band sehr persönlich geworden, von tiefer Begeisterung durchdrungen. „Ich bin mein eigenes Beispiel“, sagt der 56-Jährige.

Schon der Einband verrät viel: Platten und CDs türmen sich in zehn Regalreihen, gestreckt über ausklappbare zehn Seiten. „Ein kleiner Witz für alle, die lieber eine Geschichte der Pop-Musik gelesen hätten“, verrät der Autor bei der Buchvorstellung in Leipzig. Die Collage zeigt: Ihm geht es vor allem um die Hörarbeit. Erst im Verknüpfen wird das offene Geflecht Pop-Musik zu dem gewissen Etwas, das so schillert und trotz aller Definitionen widersprüchlich bleibt – was gerade das Reizvolle ist. Der Rezipient erst erschafft Pop-Musik, ist Diederichsens Kernthese. „Fans müssen sie selbst zusammensetzen, aus Überzeugung und Verliebtheit in Stimmen.“

Darum kommt gleich nach dem stilisierten Buchcover-Blick ins Wohnzimmer des heutigen Hochschulprofessors ein Kindheitsfoto: Mit seinem jüngeren Bruder Detlef, nun auch Musikjournalist und Musiktheoretiker, lauscht er 1964 dem Radio. Das erste Stück, das er erinnert: „Dominique, Dominique“ von der Singenden Nonne. „Natürlich keine Pop-Musik.“ Dann „I Wanna Hold Your Hand“ von den Beatles. Pop-Musik. Die Familie hatte noch keinen Plattenspieler, berichtet Diederichsen, der zunächst dachte, die Beatles würden allsamstäglich im nahen NDR-Studio spielen, von dem aus die geliebte Hitparade gesendet wurde. Mit Mitsingen, Bands zeichnen und sie dem Bruder vorführen, begann sein Fan-Dasein.

Der nächste Schritt: Ein Schlagzeuggeräusch in einem Lied ließ ihn nicht los, er wollte die Hörerfahrung wiederholen, ein Plattenspieler kam ins Haus, Diederichsen lauschte fortan wieder und wieder denselben Scheiben, studierte die Cover, las Musikmagazine, entdeckte für sich in diesem Ritual Zusammenhänge: Pop-Musik wirkt nur, wenn sie ins eigene Leben fährt. Ihn packte besonders die Incredible String Band.

Die wahre Initiation aber: das erste Konzert. Für Jüngere: der erste Rave. Ein Erlebnis, das woanders hinführt. Für Diederichsen war es Johnny Winter, ein irrer, ausgemergelter Albino-Typ, der so viel mehr war als Bluesrock. Ein Versprechen auf eine tiefere Wahrheit. Wobei Diederichsen selten von Wahrheiten spricht, denn er weiß um die Künstlichkeit der Performance, um die Pose. Aber nur, wer einen Bezug zu sich selbst und einer möglichen identitätsstiftenden Ebene ahnt, erlebt Pop-Musik in Diederichsens Sinne. Erfährt Überwältigung, Begehren oder – mit Hegel gesprochen– „Bewegung der Seele“. Diederichsen, dem es weniger um soziologische oder musiktheoretische Lesarten, sondern Körperlichkeit geht, spricht von Erkenntnis, Rührung, Stimulation, Intimität und Exklusivität, auch von „komischen Überhöhungen“. Und von Offenbarung: Jede Menge religiöse Metaphern flattern durchs Buch.

Die Nicht-Initiierten und Uneingeweihten dagegen hören Musik nur nebenbei, leben ihre jugendliche Suche nach Rebellion wie Zugehörigkeit anders aus (im Fußball etwa). So grenzt Diederichsen Pop-Musik auch von populärer Musik ab, bei der es ums Aufführen bestimmter Muster geht, um reproduzierbare Melodien, wie beim Schlager oder in der Folklore. Bei der eher soundbasierten Pop-Musik dagegen sind Autorschaft und die Eigenheiten des Performers zentral: „Die Attraktion ist nicht das Lied selbst, sondern dass eine bestimmte Person es gesungen hat.“ Wobei auch hier der Rezipient die letzte Instanz ist. Wenn es ihn tief durchdringt und die Musik nur durch diesen Interpreten zählt, vermögen auch Schlager oder gar Klassik zu Pop zu werden: „Auch Helene Fischer kann Pop-Musik sein. Oder Bach“, sagt Diederichsen, weshalb es auch zum Starkult in der E-Musik gekommen sei. Von Maria Callas bis Anna Netrebko.

Doch im Grunde geht es in der E-Musik weniger um den Interpreten als um die Musik selbst, um ihre Komplexität, um die Partitur. Pop-Musik dagegen ist für Diederichsen auch die bewusste Gegenreaktion auf dieses Können, ist ein „verunreinigtes Format“, eine provokative Umarmung von „Dreck“, wie er sagt. Pop-Musik ist ihm Gegenkultur, Instrument der Abgrenzung und Selbstermächtigung. Was auch an ihren Wurzeln liegt. Diederichsen setzt den Beginn der Pop-Musik in den 1950ern an und sieht die Ausweitung der afroamerikanischen Erfahrung, die sich in Blues und Jazz niederschlug, als einen Vorläufer. Doch vor allem beschreibt er Pop-Musik als Mittelklassekonstrukt junger weißer Männer. Sie suchten in der Nachkriegszeit, in einem „Gefühl der Weltlosigkeit“ nach Orientierung, wollten sich positionieren, sich abgrenzen gegen die Anzugträger: Rock’n’Roll hat ihr Leben gerettet. Versprach „eine eigene Gesellschaft mit eigener Moral“, zitiert der Autor gern die Band Mutter.

Diederichsen kommt aus der linken Theorie, darum ist Pop-Musik für ihn immer auch Dissidenz, ist Rebellion, selbst wenn sie flauschig daherkommt. Dass „Pop“ heute gerade von der gesellschaftspolitisch interessierten Jugend, die sich zuletzt in der Occupy-Bewegung zusammenfand, als Schmähbegriff, als Gegenteil von gegenkulturellem Drängen begriffen wird, kommt im Buch allerdings nicht vor. Auch muss Diederichsen im Gespräch mit Lesern oft klarstellen: „Pop“ in „Pop-Musik“ meint auch Rock, Techno, Rap und noch obskurere Genres. Der 56-Jährige kennt sich bestens auch mit neuesten Spielarten aus, die jedoch teils schwerer in seine am eigenen Hören orientierten Raster passen: Schon die These von der Bass-Verliebtheit elektronischer Musik als Gegenstück zur Verehrung des Sänger-Individuums überzeugt nicht vollends. Seine Deutungsmuster haben eben etliche Jahre auf dem Buckel.

Was sein Buch außerdem zu durchaus schwieriger Lektüre macht, ist das Erzählen in Schleifen, in Wiederholungen mit sich neu verästelnden Zusatzaspekten, wozu sich auch eine Flut philosophischer Verweise (auf Adorno, aber auch auf Ernst Bloch) gesellt. Zugleich weiß Diederichsen, dass er vom baldigen Ende einer Epoche schreibt.

Pop-Musik wirkt heute weitaus weniger identitätsstiftend als noch vor 20 Jahren. Jugendliche erleben im Internetzeitalter kaum mehr solch intensive „Initiationsmomente“ wie einst Diederichsen. „Genüsse ohne besondere Fallhöhe“ regieren heute, sagt der Kulturwissenschaftler im Gespräch. Wer einen Track im Netz-Stream hört, macht all die Erfahrungen nicht, die zum Erlebnis Pop-Musik gehören: Die Musik ist wieder entkörperlicht, wird „frei Haus geliefert“, tritt in den Hintergrund, da keine eigene Arbeit nötig ist.

Diederichsen spricht denn auch von drei Kulturindustrien: Zunächst dominierten Radio und Kino. Es folgte die Hochzeit der durchs Fernsehen allgegenwärtigen Pop-Musik. In der Internet-Zeit gehe es um „Kontrolle und Integration durch Spiele“, was sich in „Outdoor“-Phänomenen ausdrücke. Doch ein klarer Begriff fehlt Diederichsen hier. Er nennt auch nicht die Cosplay-Kultur als ins Reale wandernde Deutung von Manga-, Game- und anderen Fantasywelten. Doch Diederichsen will schließlich nicht die heutige Jugendkultur und neue Abgrenzungs- und Zugehörigkeitsgefüge analysieren.

Sein Sujet bleibt die Pop-Musik. Auch wenn er nach 446 Seiten zugibt, dass das zuvor beschriebene „komplexe soziale Theater“ – seines Zaubers heute auch durch zu viel Wissen beraubt – niemand mehr genießen kann, da es kaum mehr zu Einsichten führe. Ein Pessimist ist er dennoch keineswegs. Auch kein Berufsjugendlicher. Die bekommen in seinem auch humorig-verurteilenden Mammutwerk (Hass ernten etwa Eric Clapton oder Pink Floyd) ebenso ihr Fett weg wie jene Enthusiasten, die nach Authentizität suchen.

Als mögliche Zukunft für Pop-Musik sieht Diederichsen – neben dem Wohlfühlen in der Nische und dem Abdriften in die Mode – denn auch gerade: Kunst. Wer sich in der Pop-Musik selbst reflektiert, die Mechanismen versteht, sichtbar macht oder untergräbt, ist auf dem Weg zur Kunst, postuliert der Professor der Wiener Akademie der Künste. Sein vorletztes Kapitel widmet er diesem Musikerkreis, zu dem er zwischen Todd Rundgren und Kanye West nur Insidern bekannte Bands zählt wie ein japanisches Hip-Hop-Kollektiv „ohne Hop“. Aber so weit lesen ohnehin nur Hartgesottene. Pop-Musik-Fans eben.

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