Kaiserslautern Nichts außer Träumen

Immer, wenn es Sommer wird, beginnen wir mit dem Erzählen. Seit fast 20 Jahren geht das so. Wir laden Schriftsteller dazu ein. Und Journalisten der RHEINPFALZ. Das Thema dieses Mal lautet: „Ein Sommertagstraum“. Heute schreibt Pola Schlipf.

Der Heilpraktiker mit seinen weißen zerzausten Haaren und in seiner grünen Strickjacke seufzte. „Frau Bruckner, Sie müssen träumen üben.“ Mathilda zog die Augenbrauen nach oben und schaute den Mann verständnislos an. Er war ihre letzte Hoffnung gewesen. Monatelang tingelte sie nun schon von Praxis zu Praxis, von Fachmann zu Fachmann. Keiner hatte ihr erklären können, warum sie das Gefühl hatte, ihr Kopf sei von dünnen Krakenarmen fest umklammert. Niemand wusste, weshalb ihr Körper Nahrung zwar aufnahm, aber wochenlang nicht wieder abgab. Nicht eine Therapie hatte Linderung gebracht. „Migräne“, „Verstopfung“, „Hartleibigkeit“ hieß es auf den Patientenbögen. Jetzt also „Traumlosigkeit“. Das war in der Tat etwas Neues. Fast hätte sie zu Lachen angefangen. Der Zausel auf der anderen Tischseite lächelte jedoch nicht. Es war ihm scheinbar ernst. „Wissen Sie, in unseren Träumen verarbeiten wir unser Leben“, sagte er jetzt freundlich, aber mit Nachdruck. „Also, trainieren Sie. Lassen Sie Ihren Geist schweifen.“ Mathilda krallte ihre Finger fester um ihre Handtasche. Sie schwitzte, obwohl sie fror in ihrem grauen Kostüm und der weißen Seidenbluse. Das ist esoterischer Quatsch, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Gleichzeitig fragte sie sich, woher ihr Gegenüber wusste, dass sie schon seit Jahren traumlos schlief. Stand es ihr ins Gesicht geschrieben, dass die Meldungen über all die Menschen, die meinten, ihre Macht auf Kosten anderer mehren zu müssen, über all die An-ein-besseres-Leben-Glaubenden, die auf dem Weg dorthin das Schöne und Gute um sie herum kaputtschlugen, sie zunehmend belasteten? Oder sah der Zausel ihr an, dass der Stein in ihrem Magen von Tag zu Tag schwerer wog, wenn der schmierige und arrogante Ludger ihr auf dem Büroflur begegnete? Bislang hatte sie ihre bilderlosen Nächte als etwas Gutes empfunden. Glitt in Büchern jemand in einen traumlosen Schlaf, tat er dies meist, weil keine Sorgen sein Gemüt beschwerten und am nächsten Morgen erwachte er besonders erfrischt. Das freilich konnte sie von sich nicht behaupten. Ihr Mund war trocken. Endlich fragte Mathilda: „Wie? Wie soll ich das machen, das Träumenüben?“ Jetzt lächelte der Zausel doch. „Nichts denken, nichts wollen, leeren Sie Ihren Kopf.“ Als sie wieder auf der Straße stand, hatten sich die Wolken verzogen und die Sonne brannte auf Mathilda herunter. Das Träumen üben, das war doch absurd. Entweder man träumte oder eben nicht. Das war wie mit diesen verpixelten 3D-Bildern, die sich nur dem zeigten, der einen vollkommen entspannten Blick auf sie warf. Wer sich anstrengen musste, um seine Augen nicht anzustrengen, hatte schon verloren. Und das mit dem Kopfleeren, das hatte schon Harry Potter nicht hinbekommen. Denken Sie nicht an einen rosa Elefanten und schwupps, stand er deutlich vor einem, das war doch der Klassiker. Mathilda ging nach Hause, öffnete die Tür, zog Schuhe und Jackett aus, durchquerte die Diele, den Flur und blieb vor der verschlossenen Balkontür stehen. Sie sah nicht die Bäume in den Gärten ihrer Nachbarn, nicht den goldenen Hahn auf der Kirchturmspitze, der über die Dächer ragte, nicht die Mauersegler, die wie schwarze Pfeile durch die Luft sausten. Ihr Kopf dröhnte, ihr Körper fühlte sich an, als wäre er bis zum Rand gefüllt, obwohl sie seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen hatte. „Gleich platze ich“, dachte sie. Am nächsten Morgen wusste sie nicht mehr, wie sie den Abend herumgebracht hatte. Irgendwann hatte sie sich wohl ins Bett gelegt, mit Kleidern, die Haare noch immer zu einem Dutt verknotet, und war in einen bleiernen Schlaf gefallen. Der anschließende Bürotag verging wie alle Bürotage zuvor, allerdings verharrte Mathilda am Nachmittag bei ihrer Teepause ein wenig länger als üblich in der winzigen Küchenzeile am Ende des langgestreckten Großraumbüros. An die Spüle gelehnt schaute sie sich um. „Sie müssen das Träumen üben“, hörte sie den Zausel sagen. Aber dieser Raum hier, mit dem grauen, borstigen Teppich, den weißen Wänden, den silbrigen Lamellenlampen, die Tag und Nacht brannten, war sicher kein Traumraum. Hart klapperten die Tastaturen, nervig schrillten die Telefone, dumpf brummten die Drucker. Kein Geist würde sich hier aufschwingen und von dem Realexistierenden lösen können. Mit einem Seufzen kehrte sie an ihren Arbeitsplatz zurück. Auch sie hatte noch zu tippen, zu telefonieren, zu drucken. Träumen stand nicht auf der Liste. Als Mathilda am frühen Abend das Gebäude verließ, kam ihr Ludger entgegen. Er hatte sie noch nicht gesehen und so drehte sie sich schnell um und ging in die andere Richtung davon. Sie lief durch Straßen, die sie nicht kannte, bog um Ecken, die ihr fremd waren und fand sich plötzlich vor einem Schaufenster eines Buchladens wieder. In der Auslage lagen und standen bunt gemischt Klassiker, Bestseller und Ratgeber. In einer besonders schön illustrierten Ausgabe prangte Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ auf einem kleinen Podest. Darunter gruppierten sich Thomas Manns „Zauberberg“ und E.T.A. Hoffmanns „Der goldene Topf“. Ein wenig abseits schaute „Der kleine König Dezember“ von Axel Hacke den Schaufensterguckern entgegen. Mathilda stutzte. „Lauter Traumbücher“, dachte sie. Shakespeares Figuren träumten dank wundersamer Pflanzenkräfte allesamt von der Liebe, Mann hatte seinen Hans Castorp in den Schnee geschickt, um vom Tod zu träumen, der Gespenster-Hoffmann ließ den Studenten Anselmus eintauchen in eine schillernde Welt voller Zauber und der immer kleiner werdende Dezemberkönig hatte gar einen ganzen Raum voller Schachteln mit Träumen darin. Überbordende Fantasie oder Regale mit Traumbildern standen ihr nicht zur Verfügung. Aber vielleicht musste sie sich entscheiden zwischen halluzinogenen Mitteln und einem Trip ins ewige Eis? Mathilda schloss die Augen. Wenn das Träumen tatsächlich helfen sollte, all das Belastende, das sie mit sich herumtrug, das täglich auf sie einströmte, besser ertragen zu können oder gar loszuwerden, dann wollte sie es wirklich lernen. Ab jetzt würde sie üben. Anfangen würde sie damit unter der großen Buche in dem kleinen Park nahe ihrer Wohnung. Dort angekommen, setzte sie sich mit dem Rücken an den glatten Stamm gelehnt ins Gras. „Nichts denken, nichts wollen.“ Sie zwang sich, den Vögeln zuzuhören, das Licht-und-Schatten-Spiel der Blätter zu beobachten und mit einem Mal schwollen die Geräusche an, sie drangen klarer und lauter in ihr Ohr, lösten sich dabei aber gleichzeitig von ihren Quellen. Dann folgte ein Schlag gegen ihren Kopf. „Tut mir leid“, rief ein Junge, der auf sie zugerannt kam und seinen Ball vom Boden aufhob. Er blieb noch einen Moment vor ihr stehen, schaute sie an, lächelte schief und lief auch schon wieder zu seinen Spielkameraden. „Immerhin war es ein Anfang“, dachte Mathilda, während sie sich die Stelle rieb, an der der Ball sie getroffen hatte. In den nächsten Tagen und Wochen versuchte sie es immer wieder. Sie versuchte beim Hinausschauen nichts zu fixieren. Beim Kochen konzentrierte sie sich darauf, sich die Länder vorzustellen, aus denen die Gewürze stammten. Vor dem Einschlafen sammelte sie Augenblicke, von denen sie gerne geträumt hätte. Ab und an schienen ihre Gedanken auch tatsächlich fortzudriften und zu schweben zu beginnen. Aber einen Traum hatte sie nie. Der Durchbruch kam unerwartet und zwar mitten in einer Konferenz. Die Luft war stickig, der Beamer brummte, die Anzug- und Krawattenträger hielten mit geschäftsmäßigen Stimmen langweilige Vorträge und in ihrem Sprudelglas zerplatzten mit leisem Zischen die Kohlensäurebläschen. Mathilda schaute auf die flimmernden Projektionen an der Wand, ohne sie zu sehen. Unmerklich verwandelten sich die Balkendiagramme in Bäume. Mathilda tauschte ihr Kostüm gegen ein verwaschenes Sommerkleid und löste ihre Hochsteckfrisur. Ein leichter Seewind fuhr ihr durch das Haar. Sie schmeckte Salz auf ihren Lippen, roch es in der Luft, spürte es auf ihren nackten Armen. Sie saß in ihrem Garten nahe am Meer, zwischen alten, knorrigen Olivenbäumen und einer Hecke aus duftendem Rosmarin. Auf der kleinen Mauer, die das Beet mit den Rosen neben ihr einfasste, sonnte sich eine grün schillernde Eidechse. Ein leises Knirschen von Schritten auf Kies kündigte ihr an, dass Rashid in den Garten gekommen war. Er trat von hinten an ihren Liegestuhl, berührte sie sanft an der Schulter, küsste sie auf den Scheitel. „Wie war Dein Tag?“, fragte er mit seinem weichen Akzent. „Ich habe geträumt“, antwortete Mathilda, „einen Alptraum voller grauer und trauriger Menschen.“

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