Kaiserslautern Musik ist Notwendigkeit
Im März des vergangenen Jahres ehrte die Musikwelt Pierre Boulez aus Anlass seines 90. Geburtstags. Jetzt ist die wohl bedeutendste, ganz sicher aber einflussreichste Persönlichkeit der französischen Gegenwartsmusik in Baden-Baden gestorben, wo er lebte und Ehrenbürger war.
Es war an einem lauschigen Sommernachmittag vor sechseinhalb Jahren. Man saß auf dem Balkon von Pierre Boulez’ Baden-Badener Villa und sprach über Kunst und Krisen – die der Finanzwelt, der Wirtschaftswelt, des gegenseitigen Vertrauens. Und auch jene der Klassik. Wäre Boulez so gewesen, wie man es Künstlern gerne vorwirft – narzisstisch und realitätsfern: Er hätte nur von den eigenen Erfolgen und der eigenen Legende geredet. Aber dann wäre er natürlich nicht Pierre Boulez gewesen – der kompromisslose und radikale Komponist, Dirigent, Erneuerer und Querdenker. Auch damals, 84-jährig, sprühte sein wacher Geist nur so vor Ideen. Für „absolut notwendig“ sagte er, halte er die Erziehungsprojekte von Orchestern: „Und dann dieser Frack – ich kann ihn nicht mehr sehen. Das ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts – schafft ihn ab!“ Ob das je erreicht, ob es überhaupt von einer Mehrheit gewünscht wird, sei dahingestellt. Für sich und seine Musiker hatte Boulez auch hier klare Regeln. Schwarze, schlichte Garderobe – er selbst trat im schwarzen Anzug auf, meist mit Krawatte. Aber ohne „la baguette“ – den Taktstock. Weil er dessen handwerkliche Notwendigkeit überhaupt nicht einsah, glaubte, mit den Händen viel genauer sein zu können. Wer ihn am Pult erlebt hat, kann dem nur zustimmen. Boulez’ Art zu dirigieren wäre eine eigene Studie wert gewesen: nüchtern, präzise waren seine Gesten; auf denjenigen, der ihm erstmals begegnete, konnten sie allzu geschäftsmäßig wirken. Aber dahinter verbarg sich die kluge Hand des Analytikers, dem dirigentische Show fremd war. Ihm, der Musik nie als Luxus begriff. Sondern als „Notwendigkeit“, wie er in dem zitierten Gespräch unterstrich. Auch wenn Pierre Boulez’ Tod – er starb in der Nacht zum Dreikönigstag nach langem Leiden – für Eingeweihte nicht überraschend kam: Der Verlust ist ungemein schmerzhaft. Nur wenige Persönlichkeiten prägten das Musikleben nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs so nachhaltig wie er, nur wenige zeichneten sich durch eine solche geistige und moralische Potenz aus wie der 1925 im französischen Montbrison geborene Künstler. Die Musikgeschichte der Avantgarde des 20. Jahrhunderts führt ausgehend von der Neuen Wiener Schule mit Schönberg, Berg und Webern direkt in den von René Leibowitz um 1947 begründeten Serialismus. Und dessen Schüler war Pierre Boulez. Auch sein anderer wichtiger Lehrer Olivier Messiaen leistete mit seinem Klavierstück „Mode de valeurs et d’intensités“ einen weiteren, ja den ersten wichtigen Beitrag zu dieser neuen Schule, in der alle denkbaren musikalischen Parameter wie Lautstärke, Tonlänge, Artikulation einer genauen Proportionalisierung untereinander und zueinander unterworfen werden. Es ist wohl kein Zufall, dass Boulez, der in einem Ingenieurshaushalt aufwuchs und ursprünglich Mathematik studieren wollte, innerhalb des Serialismus eine so wichtige Rolle spielte. Er war es, der Struktur vor Motiv und Material setzte. Die anfängliche Nähe seiner Musik zu jener Schönbergs wich alsbald einer immer komplexer ausgeklügelten Systematik, wie sie in den berühmten „Structures“ für zwei Klaviere (1952/1956–1961) beispielhaft entwickelt ist. Wichtigstes Opus Boulez’ ist wohl die Kantate „Le Marteau sans Maître“, die 1955 in Baden-Baden zur Uraufführung gelangte. Der multikulturelle Gestus mit seinen Anklängen an asiatische und afrikanische Musik wies einen neuen, noch souveräneren Weg. Seine prägende Position für die Gegenwart verschaffte dem Komponisten gleichsam eine solitäre Position als Vordenker und Pädagoge: mit seinen Vorlesungen bei den Darmstädter Musiktagen und natürlich dem von ihm 1971 ins Leben gerufenen Pariser Institut de la Recherche et de Coordination Acoustique/Musique (IRCAM), neben den Darmstädter Ferienkursen und den Donaueschinger Musiktagen einem der wichtigsten „Labors“ der Avantgarde. Dass Boulez’ Haltung eine komplette Gegenposition zum romantischen Künstlertypus war, ist schon angeklungen. Umso verblüffender dürfte es sein, dass er als Dirigent zu einem wegweisenden Interpreten dieser Epoche wurde – insbesondere im Hinblick auf Richard Wagner. Zweimal hat er in Bayreuth den „Parsifal“ dirigiert, noch berühmter geworden ist seine Interpretation des „Ring“ zwischen 1976 und 1980 zusammen mit dem Regisseur Patrice Chéreau. Anfangs abgelehnt, wurde die Produktion zum Triumph des Neuen über das Tradierte. Auch weil der Anti-Traditionalist Boulez Wagners Musik radikal auf ihre Strukturen hin durchleuchtete und Charisma nicht über Pathos, sondern durch seinen „serialistischen“ Weg erzeugte. Als Dirigent ist Pierre Boulez, der auch an immer neuen Kompositionen arbeitete, noch bis ins hohe Alter öffentlich präsent gewesen. Gegenüber der zeitgenössischen Pop-Musik hatte er eine sehr differenzierte Haltung. So kritisierte er Michael Jackson, empfand den 4/4-Takt des Pop nur „grob“, in Bob Dylan sah er trotz „einfachen musikalischen Vokabulars“ eine Zentralgestalt des Rock. Und mit Frank Zappa, der vor wenigen Tagen 75 geworden wäre, arbeitete er 1984 zusammen und nahm sieben von dessen Werken auf. Mit dem von ihm gegründeten Ensemble Intercontemporain. Neben großen internationalen Traditionsorchestern verband ihn besonders eine intensive Zusammenarbeit mit dem SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, zum Beispiel bei den Donaueschinger Musiktagen. Boulez und die SWR-Sinfoniker – auch das war eine beispielhafte deutsch-französische Freundschaft. Nun ist er gegangen, ein halbes Jahr vor dem angekündigten, verordneten Tod dieses Klangkörpers. Er, der nicht zuletzt mit der Provokation Geschichte gemacht hat, man solle die Opernhäuser in die Luft sprengen.