Kaiserslautern Jahrmarkt der Zweideutigkeiten

Die Oper Frankfurt wagt sich an ein Stück, das einst ein Welterfolg war, heute aber von Dramaturgen eher mit Fingerspitzen angefasst wird: Friedrich von Flotows Oper „Martha“ gilt als kitschverdächtig, betulich, arg gestrig. Stimmt nicht, wie die Frankfurter Inszenierung von Katharina Thoma beweist, die in Sebastian Weigle am Pult auch einen überzeugenden musikalischen Anwalt hat.

Was war das früher alles so schön: „Ach, so fromm, ach, so traut.“ Das gehörte einmal zur Standardausrüstung eines jeden Tenors, keineswegs nur der deutschsprachigen. Und wenn Lyonel in Friedrich von Flotows Oper „Martha“ dann in dieser Arie bei seinem „Martha! Martha! Du entschwandest“ angelangt war, begann das große Seufzen im Publikum. Vornehmlich dem weiblichen, versteht sich. Die Taschentücher wurden schamhaft gezückt – noch bis in die 1980er Jahre hinein. Heute ist der Welterfolg aus dem Jahr 1847 eher ein seltener Gast auf den Opernbühnen geworden. Wenn in Frankfurt der amerikanische Tenor AJ Glueckert dann jene besagte Lyonel-Arie anstimmt (und sich dabei gegen Ende auch etwas überanstrengt), kommen nostalgische Gefühle auf im Parkett. Und auf der Bühne, auf der ein älteres Paar an dem Sänger vorbeispaziert, die Melodie erkennt, zu tanzen beginnt und sich selig an vergangene schöne Stunden zu erinnern scheint. Katharina Thomas Regie inszeniert dieses Verschwinden der Oper aus dem Repertoire mit. Das Geschehen wird in heutigen Kostümen von Irina Bartels auf einer Bühne von Etienne Pluss gezeigt, die ständig in Bewegung ist. Mal wird ein Kubus von der Decke abgeseilt, in dem sich die englische Königin befindet, dann werden Kulissen an den Protagonisten vorbei hereingedreht, welche die Bühne in eine Spieluhr zu verwandeln scheinen. Der großartige Chor ist ebenso durchchoreographiert wie die Ensembleszenen der Solisten. Aus dem Markt zu Richmond wird eine Art Fleischbeschauungsmarkt in einer zwielichtigen Spelunke. Die Geschlechter sind hier nicht immer ganz klar, Männer tragen Frauen-, Frauen Männerkleidung. Travestie und Mummenschanz, Karneval und Gaukelspiel. Nicht alle sind das, was sie vorgeben zu sein. Lady Harriet Durham und Nancy, ihre Vertraute, ohnehin nicht. Und der Pachthof Lyonels und Plumketts entpuppt sich als ziemlich beengter und wackeliger Wohnwagen, der mit Hilfe eines Ergometers mit Strom versorgt werden kann. So weit die lustige, bisweilen knallig-poppige Seite dieser Inszenierung, die zugleich aber auch die Gefühle der Personen ernst nimmt. Es gibt eine Sehnsucht nach Liebe, nach echten Gefühlen hinter all den gesellschaftlichen Konventionen. Nancy erstellt für ihre Freundin ein Online-Profil bei einer Partnervermittlung, Lyonel treibt die Sehnsucht nach einer Partnerin auf den Markt. Beide sind auf der Suche nach einem Glück, das sie über Umwegen auch finden. Und dieses Happy End wirkt in der Frankfurter Regie tatsächlich nicht aufgesetzt und unglaubwürdig. Dafür sorgen auch die fantastischen Sänger dieser Produktion: Neben dem bereits erwähnten AJ Glueckert mit bisweilen strahlendem Tenor sind dies vor allem die beiden wunderbaren Damen Maria Bengtsson als Lady Harriet und Katharina Magiera als Nancy. Großartiges schauspielerisches Talent beweisen auch Björn Bürger als Plumkett und Barnaby Rea als Lord Tristan. Und da auch Sebastian Weigle am Pult des Frankfurter Opernorchesters das Stück sehr, sehr ernst nimmt und genau den richtigen Ton trifft, irgendwo im Spannungsfeld zwischen Offenbacher’scher Spritzigkeit, Wagner vorwegnehmender romantischer Emphase und bisweilen an Donizetti erinnerndem Belcanto, gelingt die Rehabilitation einer großartigen Oper. Termine 22., 26., 30., Oktober; 5., 12., 18., 25. November.

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