Kaiserslautern Gegensätze in Berlin

Seit einiger Zeit behandelt das Festival des deutschen Films in Ludwigshafen Kino- und Fernsehproduktionen als gleichrangig. Im Wettbewerb laufen diesmal neun reine Fernseharbeiten und zehn Kinoproduktionen, darunter einige mit Senderbeteiligung. Gleich zwei Filme über das Leben in Berlin zählen dazu: die SWR-Arte-Koproduktion „Nachspielzeit“ und das von drei Sendern mitfinanzierte Dokudrama „Die Klasse – Berlin ’61“.

Ganz im Heute, in Zeiten der Angst vor sozialem Abstieg und Pegida-Agitation, spielt „Nachspielzeit“. Der frisch für seine Leistung in „Victoria“ mit dem Deutschen Filmpreis als bester Schauspieler ausgezeichnete Frederick Lau ist darin erneut in seinem typischen Rollenfach zu sehen: als gewaltbereiter Verlierer mit heikler Gesinnung, in dem vielleicht aber mehr stecken könnte. Lau spielt den Hartz-IV-Empfänger Roman, der sich seine steigende Miete nicht mehr leisten kann und ein ziemliches Arschloch ist. Der Onkelz-Fan schlägt Frauen und pöbelt gegen Ausländer, vor allem gegen die „Kanaken“ vom gegnerischen Fußballteam aus Neukölln. Seine Mannschaft Empor Nordwest ist dagegen stramm rechts gepolt. Ein besonderer Dorn im Auge ist ihm der Deutschtürke Cem (Mehmet Atesçi, Ensemblemitglied im Berliner Gorki-Theater), der sympathische Gegenpol des Films und die eigentliche Hauptfigur: Cem macht Freiwilligendienst im Altersheim und denkt politisch klar links – wie sein Vater, dessen Fischrestaurant „Trotzki“ heißt. Auch das Restaurant steht wegen steigender Miete vor dem Aus: Die Gentrifizierung Berlins bildet den Hintergrund des Films, der auch lebendig die bunten Partyaktionen der linken Szene gegen gierige Vermieter zeichnet. Doch packt „Nachspielzeit“ zu viele weitere Themen an: den Umgang mit Alter und Krankheit, die Rolle des Fußballs in der DDR, die Erziehungsfehler früherer Vätergenerationen. Zu konstruiert wirkt auch die Verbindung zwischen Roman und Cem. Gelungen aber fängt Regisseur Andreas Pieper die Tristesse der Hauptstadt ein, die all jene spüren, die unten auf der sozialen Leiter stehen. Einen Blick aufs historische Berlin wirft dagegen der von NDR, RBB und dem österreichischen Servus-TV mitfinanzierte Film „Die Klasse – Berlin ’61“. Das auf wahren Erlebnissen basierende Biopic erzählt von sechs Schülern, denen der Mauerbau 1961 auch die Zukunft verbaut hat. Ursprünglich als Dokumentation geplant, verknüpft Regisseur Ben von Grafenstein nun recht schlüssig Spielfilmbilder und Kurz-Interviews mit den echten Protagonisten. „Wir wollten ein Stück Geschichte lebendig werden lassen“, sagt Produzent Hartmut Klenke über das Konzept. Tatsächlich berührt die weitgehend unbekannte Episode aus der geteilten Stadt: An zwei Schulen West-Berlins durften Oberschüler aus der DDR, die im Osten keine Abitur-Zulassung bekamen, Ende der 1950er noch die Hochschulreife machen. Darunter war etwa Rüdiger John, der Arzt werden wollte, wie auch seine beiden Mitschüler. Dem einen gelang es noch vor August 1961, im Westen bleiben zu dürfen, der andere floh 1963 über den Groß Glienicker See. Rüdiger selbst landete im Gefängnis. Während der echte Rüdiger John sich im Film meist betont nüchtern gibt, bringt Schauspieler Vincent Redetzki das Leiden des Abiturienten in den Spielszenen schon allein mit seiner Mimik beeindruckend zum Ausdruck. Der 23-Jährige beweist damit bereits im zweiten Wettbewerbsfilm, dass er zu den kommenden großen Schauspielern im Land gehört. Schon in „Das richtige Leben“ von Robert Heber überzeugte er als Bäckerlehrling in der strukturschwachen Oberlausitz, der plötzlich Vater wird und keinen legalen Weg sieht, um seine künftige Familie zu ernähren. Zum Festivalstar wurde Redetzki zum Leidwesen seiner jungen Fans, die ihn aus den „Wilden Hühner“-Filmen kennen, aber nicht: Wegen aktueller Dreharbeiten ist der Jungstar nicht nach Ludwigshafen gekommen. Komplett angereist ist dafür das Filmteam von „Spreewaldkrimi – Die Sturmnacht“. Diese zweite TV-Krimiuraufführung im Wettbewerb war manchem Besucher im Vorfeld thematisch noch fern. „Wo ist eigentlich der Spreewald?“, fragte ein studentischer Besucher in der Kinoschlange. Am Ende des wieder atmosphärisch dichten Mysterystoffes, der frei nach „Blair Witch Project“ einen Gruselfilm im Film erzählt, dürfte er zumindest wissen: Es regnet dort viel. Im Wettbewerb aber hat der Stoff trotz starker Bilder nichts zu suchen. Schließlich gibt es auch die Reihe „Kriminell gut“, die am Freitag noch Stargast Peter Lohmeyer auf die Insel lockt: Es läuft sein Krimi „Brandmal“. Preiswürdig als echter Autorenfilm mit Mut zu Eigensinn ist dieses Jahr ohnehin nur ein Beitrag im Wettbewerb: „Zerrumpelt Herz“ von Timm Kröger. Termine —„Nachspielzeit“: Premiere heute mit Filmteam (ohne Hauptdarsteller), 19 Uhr, weitere Vorführungen morgen, Freitag, Samstag. —„Die Klasse – Berlin ’61“ läuft heute, 18 Uhr, mit Regisseur Ben von Grafenstein. —„Spreewaldkrimi – Die Sturmnacht“ läuft heute und morgen, mit Regisseur Christoph Stark und Schauspielerin Luise Heyer.

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