Kaiserslautern „Es ist kaum möglich zu sagen, ich schiebe jetzt mal eine ruhigere Kugel“

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Noch ein Wochenende, dann ist sie wieder vorbei, die Ferienzeit, in der Entspannung erlaubt, aber auch durchorganisiert war. Nun ist wieder Leistung gefragt. Der Soziologe Stephan Lessenich hat über Fragen wie diese ausführlich nachgedacht: 2014 verfasste er für den Laika-Verlag das Vorwort zu einer Neuauflage von Paul Lafargues Streitschrift „Das Recht auf Faulheit“, eine Provokation nicht nur zur Entstehungszeit vor 130 Jahren, sondern auch in unserer in allen Bereichen auf Ertrag und Wertschöpfung gepolten Gesellschaft.

„Es ist ein zeitloses Thema, man hat sich schon im vorletzten Jahrhundert Gedanken darüber gemacht, warum wir eigentlich so rastlos sind und so wenig Zeit haben, obwohl wir in einer so hochproduktiven Ökonomie leben, und es zugleich Massenarbeitslosigkeit gibt“, erklärt der überaus fleißige Professor seine Entscheidung für das kleine, widerständige Werk. „Wir haben einen wirtschaftlichen Output, der es uns ermöglichen würde, relativ radikal Arbeitszeit umzuverteilen und zu reduzieren, aber wir können es offensichtlich nicht. Gesellschaftlich nicht – wir können uns nicht darauf einigen, dass das ein sinnvoller Umgang mit dem Wert wäre, den wir schöpfen. Und individuell nicht, denn jeder steckt in bestimmten Strukturen, Erwartungshaltungen, Beziehungen, wo es kaum möglich ist zu sagen, ich schiebe jetzt mal eine ruhigere Kugel. Das ist sehr schwer zu legitimieren, jedenfalls bevor man in den Erschöpfungsstatus gerät oder eine klinische Diagnose bekommt“, sagt der 49-Jährige beim Gespräch in seinem lichten, in Weiß- und hoffnungsfrohen Grüntönen gestalteten Büro im Institut für Soziologie der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität in Schwabing. In diesem Raum hat vor ihm ein Mann gewirkt, der mit seinen bestechenden Analysen und griffigen Schlagwörtern seit dem 1986 fast zeitgleich mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl erschienenen Bestseller „Die Risikogesellschaft“ lange als öffentliches, wenn auch nicht unumstrittenes Gesicht der deutschen Soziologie fungierte. Ulrich Becks Foto hängt vor der Tür, und sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl „Soziale Entwicklungen und Strukturen“ ist froh, dass er sich mit dem Wissenschaftler und Publizisten noch darüber austauschen konnte, bevor Beck am 1. Januar 2015 plötzlich an einem Herzinfarkt verstarb. Lessenich sagt, ihm sei zunächst schon „ein bisschen mulmig gewesen“, als er zum Wintersemester 2014/15 den Ruf nach München angenommen habe, „denn mir war natürlich klar, welche Bedeutung Ulrich Beck besaß“. Inzwischen fühle er sich hier aber gut aufgehoben, es verbinde ihn vieles mit dem Vorgänger. „Wir sind uns nahe in der Vorstellung, wie Soziologie praktiziert werden soll, dass sie gesellschaftlich relevante Fragen ansprechen muss, die den Leuten unter den Nägeln brennen. Mein Interesse für globale soziale Ungleichheit passt ganz gut zu seinen langjährigen Interessen“, sagt Lessenich. Aber er hat aus Jena, wo er zuvor zehn Jahre lang an dem als alternativer Think Tank funktionierenden Soziologie-Institut der Friedrich-Schiller-Universität lehrte, auch ganz andere, eigene Ansätze mitgebracht. Was die Theorie angeht, lässt sich die Feststellung, die er im Vorwort zu „Das Recht auf Faulheit“ trifft, dass nämlich unsere Gesellschaft einem „starken Produktivismus“ huldige, bei dem alles darauf abziele, die Ressourcen möglichst aller Menschen umfassend abzuschöpfen, auch auf andere seiner Forschungsbereiche übertragen. Lessenich befasst sich unter anderem mit dem Alter, und mag es nicht nur positiv finden, dass selbst die sogenannten jungen Alten längst als Ressource entdeckt sind, die noch etwas leisten kann. Des weiteren interessiert ihn die immer weiter fortschreitende Ausgestaltung westlicher „Externalisierungsgesellschaften“, in denen eigene Probleme in ausbeuterischer Weise auf andere Menschen, Regionen, Staaten verlagert werden, die man als billige Hilfskräfte für Haushalt, Kindererziehung und Pflege oder als günstige Lieferanten für Konsumgüter nutzt. Was die Praxis angeht, pflegt er Basisnähe: Wo Ulrich Beck als Berater im traditionellen Parteiensystem gefragt war, ist Lessenich in der globalisierungskritischen Organisation Attac aktiv und engagiert sich bei einem alternativen Flüchtlingsprojekt in München. Was sagt das über die Rolle von Intellektuellen in unserer Gesellschaft? „Das sagt was über den sozialen Wandel. Ich glaube, dass der eigentliche Wandel aus den sozialen Bewegungen und nicht aus der etablierten Politik kommen wird“, sagt Lessenich. „Wir sollten immer deutlich machen, dass die Gesellschaft, wie wir sie gerade erleben, historisch gewachsen ist, aber dass es auch andere Möglichkeiten gibt. Nichts ist in Stein gemeißelt.“

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